Samstag, 15. September 2012

Jesus, der „Judenbengel“ – Max Liebermanns Skandalbild

Max Liebermann: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879); Hamburg, Kunsthalle
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der zwölfjährige Jesus im Tempel von Max Liebermann (1847–1935) ist erstmals 1879 auf der „Internationalen Kunstausstellung“ im Münchner Glaspalast ausgestellt worden. Die jüngeren Münchner Künstler nahmen das Bild zwar begeistert auf, aber die Öffentlichkeit reagierte schockiert. Vor allem klerikale und antijüdische Kreise verlangten, es aus der Ausstellung zu entfernen. Die Kritik nahm hauptsächlich Anstoß am unverblümten Realismus des Gemäldes. Friedrich Pecht, der Kunstkritiker der „Augsburger Allgemeine Zeitung“, bezeichnete die Figur Jesu als „den häßlichsten, naseweisesten Juden-Jungen, den man sich denken kann“, und die dargestellten Schriftgelehrten wurden als „ein Pack der schmierigsten Schacherjuden“ beschimpft (Howoldt 1997, S. 107). In der Sitzung des bayerischen Landtags vom 15. Januar 1880 wiederholten sich diese Angriffe anlässlich einer Debatte über den Kulturetat und Kunstausstellungen. Besonders die Figur des Jesusknaben erregte Ärgernis.
Eine Fotografie des ursprünglichen Gemäldes zeigt, welche Veränderungen Liebermann nach der Kritik an seinem Jesusknaben vornahm
In der ursprünglichen Fassung des Bildes, die Liebermann vermutlich schon vor 1883 überarbeitet hat, war Jesus noch „unansehnlicher“: „barfüßig, mit einem ärmlichen, kurzen Kittel, buckligem Rücken und fast halslosem Kopf (...) eindeutig als Judenknabe mit kurzen Ansätzen von Schläfenlocken und einer stark ausgeprägten Nase charakterisiert“ (Stückelberger 1996, S. 81). Liebermann überarbeitete das Bild: Er zog dem Knaben Sandalen an, verlängerte den Kittel und übermalte Gesicht und Haartracht. Doch das Gemälde sti weiterhin auf deutliche Ablehnung. Auch die antiakademische Malweise, eine  „Fleckstruktur“ (Gross 1983, S. 553), und die extrem monochrome Farbgestaltung – dunkle, gebrochen-stumpfe Brauntöne, die mit schmutzigen Helligkeitswerten kontrastieren – riefen großes Unverständnis hervor. Den Künstler trafen die Kritiken, die nicht nur seinem Bild, sondern auch ihm als Juden galten, tief.
Fritz von Uhde: Lasset die Kindlein zu mir kommen (1884); Leipzig, Museum der bildenden Künste
Nach dem Eklat in München stellte Liebermann das inzwischen überarbeitete Bild 1884 in Paris aus und dann nochmals 1907 in einer Ausstellung zu seinem sechzigsten Geburtstag. Diesmal reagierte das Publikum begeistert. Es sah in dem Bild einen Vorläufer der inzwischen beliebten „Armeleutemalerei“ – religiöse Historienbilder, die vor allem mit dem Namen Fritz von Uhde (1848–1911) verbunden sind. Uhde war es übrigens auch, der Liebermanns Zwölfjährigen Jesus im Tausch gegen seinen Leierkastenmann erwarb. 1911 wurde das Gemälde schließlich von der Hamburger Kunsthalle aus Uhdes Nachlass angekauft, 1941 von den Nationalsozialisten wieder entfernt.
Die Idee zu seinem Gemälde soll Liebermann 1876 während eines Aufenthaltes in Amsterdam in der dortigen Portugiesischen Synagoge gekommen sein. Auf diesen Schauplatz griff der Maler dann auch bei rechten Hälfte seines Bildes zurück. Der ganze vordere Raumauschnitt mit der Wendeltreppe wiederum stammt aus der Synagoge in Venedig, die Liebermann im Herbst 1878 besucht hatte. Neben den realen Örtlichkeiten, die Liebermann als Vorlage dienten, arbeitete er auch mit realen Modellen. Die Gesichter der Schriftgelehrten und des Jesusknaben sind Porträts. Liebermann hat die Figuren weder idealisiert noch lächerlich gemacht; und die Schriftgelehrten sind auch nicht karikiert dargestellt (wie etwa auf Albrecht Dürers Zwölfjährigem Jesus von 1506). 
Albrecht Dürer: Jesus unter den Schriftgelehrten (1506); Madrid, Museum Thyssen-Bornemisza
Vor allem aber ist der junge Christus nicht geschönt. In einem schlichten, ärmellosen Gewand, die Füße in groben Sandalen, zeigt ihn der Maler halb vom Rücken her und mit verlorenem Profil, wie er mit einem der Alten diskutiert. Seine Hände sind nicht zu einer weihevollen Geste erhoben, sondern argumentieren. Bei Liebermann ist die biblische Geschichte kein lange zurückliegendes historisches Ereignis, sondern in eine zeitgenössische Synagoge verlegt, mit alltäglichen Figuren in der für einen Synagogenbesuch vorgeschriebenen Kleidung. „Betont realistisch sind besonders die Gesichter gesehen, die tiefen Falten, die rotgeränderten Augen, die struppigen Haare. Schuhe und Kleidung erscheinen abgetragen“ (Howoldt 1997, S. 106).
Liebermann hatte sich mit der ersten Fassung seines Bildes – und das sicherlich bewusst – gegen die traditionelle Darstellungsweise dieses Themas gewandt, die vor allem im 19. Jahrhundert Jesus als mit Nimbus versehene, engelhafte Lichtgestalt präsentiert, mit lieblichen Gesichtszügen, in kindlicher Unschuld und Reinheit und von göttlichem Wesen erfüllt inmitten der Schriftgelehrten oder über diese erhöht. Die Juden sind meist als dunkler oder pittoresk bunter Kontrast dazu in hilflosem Erstaunen und verwirrtem Unverständnis geschildert; nur ihre unverbesserliche Uneinsichtigkeit verhindert es – so der polemische Gehalt dieser Darstellungen –, dass sie die ewige Gültigkeit der Worte Jesu und seine Göttlichkeit erkennen.
Adolph Menzel: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1851); Hamburg, Kunsthalle
1851 hatte sich Adolph Menzel (1815–1905) in einem Gemälde mit dem biblischen Thema auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu Liebermann idealisiert Menzel den Zwölfjährigen. Sein Nimbus und die edle Gestalt zeichnen ihn als Sohn Gottes aus. Er hat kein direktes Gegenüber, mit dem er diskutiert, sondern wendet sich zur ganzen Gruppe und verweist sie auf die Autorität der Thora. Im Unterschied zu Menzel charakterisiert Liebermann seine Schriftgelehrten nicht ausdrücklich als Juden, wohl aber in der ersten Fassung des Bildes die Person Jesu. „Damit wollte er deutlich machen, was in der Christologie gerne übersehen wird, daß Jesus jüdischer Abstammung war“ (Stückelberger 1996, S. 85). Diese jüdische Perspektive war vermutlich der Hauptgrund für die heftige antisemitische Kritik an dem Bild, die Liebermann mit der Übermalung der Figur Jesu zu entschärfen versuchte. Katrin Boskamp interpretiert die ursprüngliche Fassung des Zwölfjährigen Jesus als Ausdruck von Liebermanns Hoffnung, dass es zwischen Juden und Christen zu einer „Besinnung auf die gemeinsame religiöse Grundlage und zu einem wechselseitigen Austausch“ kommen möge, wie ihn „das neutestamentliche Ereignis in Form des Gesprächs beispielhaft vorwegnahm“ (Boskamp 1994, S. 114).
Es ist ein Gespäch „auf Augenhöhe“, das Jesus und der sitzende, ernsthaft zuhörende Schriftgelehrte führen. Liebermann hat dieser Hauptgruppe einen weiteren, ebenfalls sitzenden Schriftgelehrten zugesellt. Sein Kopf und seine über den Knien verschränkten Hände schließen Jesu Kopf und Hände von Jesus und die seines Gesprächspartners zu einem Kreis, dessen Mitte hell beleuchtet ist. Die Rabbiner „geraten durch das jugendlich-frische Denken des Jesusjungen in Bewegung, in Verwunderung, ja zwei von ihnen, die auf einer Treppenstufe sitzen, scheinen im Dialog ganz auf ihre Autorität zu verzichten, ein völlig neuartiges Motiv“ (Gross 1983, S. 553). Der bei Liebermann am rechten Rand stehende, die ganze Höhe einnehmende Rabbiner entspricht motivisch übrigens direkt der Rückenfigur aus einer Radierung von Rembrandt mit dem gleichen Thema (1654).
Rembrandt van Rijn: Jesus unter den Schriftgelehrten (1654), Radierung (9,5 x 14,4 cm)
Durch die beiden äußeren Rahmenfiguren öffnet Liebermann das Bild zum Betrachter: Er wird auf diese Weise zum Gesprächsteilnehmer. „Die Randfiguren orientieren sich in Blickrichtung und Körperhaltung zur Bildmitte hin und schließen die Bildhälften zusammen“ (Howoldt 1997, S. 105). Nicht nur die Schriftgelehrten verfolgen aufmerksam den Dialog, der im Zentrum stattfindet – auch Joseph und Maria sind anwesend. Die Eltern Jesu waren mit ihrem Sohn nach Jerusalem gekommen, hatten ihn im Festtrubel aus den Augen verloren und und fanden ihn dann, nach dreitägiger Suche, im Tempel wieder (Lukas 2,41-52). Liebermann platziert sie am Fuß und auf der Wendeltreppe im Hintergrund. Joseph hat sein Kind zuerst entdeckt; er wendet sich zu Maria, die, kaum erkennbar und vom oberen Bildrand überschnitten, soeben die Treppe hinabsteigt.
Ein Bilddetail sei noch erwähnt: das auffällige Betpult links im Vordergrund, in dem liturgische Kleider und Bücher aufbewahrt sind – und dem Jesus den Rücken zukehrt. Für Johannes Stückelberger verdeutlicht sich darin die Abkehr Jesu von aller dogmatischen Gelehrtenweisheit.
Max Liebermann: Simson und Delila (1902); Frankfurt, Städel Museum
Die Begegnung mit dem süddeutschen Antisemitismus, die Liebermann und seinem Bild entgegenschlug, waren dem Künstler „so zuwider“ (Liebermann 1978, S. 13), dass er für die meiste Zeit seines Lebens auf religiöse Motive verzichtete. Erst in seinem Spätwerk kommen biblische Themen wieder vor, so etwa die alttestamentliche Szene Simson und Delila (1902).


Literaturhinweise
Boskamp, Katrin: Studien zum Frühwerk von Max Liebermann. Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 1994;
Busch, Günter: Max Liebermann. Maler, Zeichner, Graphiker. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1986, S. 36-39;
Deshmukh, Marion: Max Liebermann, ein Berliner Jude. In: Angelika Wesenberg (Hrsg.), Max Liebermann – Jahrhundertwende. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997, S. 59-64;
Gross, Friedrich: Max Liebermann, Der zwölfjährige Christus im Tempel. In: Werner Hofmann (Hrsg.), Luther und die Folgen für die Kunst. Prestel-Verlag, München 1983, S. 552-553;
Faass, Martin (Hrsg.): Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Max-Liebermann-Gesellschaft, Berlin 2009;
Howoldt, Jenns Eric: Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Zwischen Anerkennung und Kritik. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Max Liebermann. Der Realist und die Phantasie. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997, S.105-108;
Liebermann, Max: Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1978;
Pucks, Stefan: „Talentiert, aber schmutzig“. Max Liebermanns Frühwerk im Spiegel der deutschen Kunstkritik. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Max Liebermann. Der Realist und die Phantasie. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997, S. 58-63;
Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996.   

(zuletzt bearbeitet am 25. März 2020)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen