Samstag, 29. Dezember 2012

Tiefste Trauer, makellos schön – Rogier van der Weydens „Kreuzabnahme“ in Madrid

Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (um 1435/1440); Museo del Prado, Madrid
(für die Großansicht einfach anklicken – es lohnt sich!)
Rogier van der Weydens Kreuzabnahme aus dem Prado in Madrid ist ein Bild, dessen Anblick mit seinen fast lebensgroßen Figuren und strahlenden Farben sofort fasziniert, ja überwältigt – ein absolutes Meisterwerk, daran lässt sich keine Sekunde zweifeln. Allein schon für dieses grandiose Gemälde, in makelloser Schönheit erhalten, lohnt sich der Weg in die spanische Hauptstadt. Für ein Fußballspiel reisen viele Leute ja auch quer durch Europa.
Rogier van der Weyden (1399/1400–1464) gehört neben Jan van Eyck (1390–1441) zur ersten, maßgebenden Generation der altniederländischen Malerei, die mit ihren Werken die europäische Kunst von Grund auf erneuert hat. Mit ihrer Malerei vollzog sich nördlich der Alpen wie mit der zeitgleichen Kunst des italienischen Quattrocento die Entstehung des modernen Bildes. Rogier van der Weyden und Jan van Eyck waren bereits für die Zeitgenossen die berühmtesten niederländischen Künstler; ihnen folgten Maler wie Dirk Bouts, Hugo van der Goes und Hans Memling nach.
Die Kreuzabnahme ist in ein breites Querformat mit einem kleinen rechteckigen Aufsatz in der Mitte eingepasst. Mit etwa 2,2 m Höhe und 2,6 m Breite überragt es die üblichen Maßstäbe altniederländischer Malerei deutlich. Die insgesamt zehn Figuren füllen die bemalte Fläche fast völlig aus. Sie sind in einen flachen, mit Goldgrund versehenen Kasten gesetzt und wirken, als seien sie Teil eines Schnitzaltars – nur eben sehr viel lebensechter, als es hölzerne Skulpturen wären. „Der Ort im Bild, an dem die biblische Handlung spielt, fällt also mit dem Ort des Bildes, das in einer Kirche auf dem Altar stand, zusammen“ (Belting 1994, S. 83). 
Die „lebenden Skulpturen, die sich in der engen, vergoldeten Nische drängen, agieren wie auf einer Bühne; ihre Verwandlung zum tableau vivant erfasst auch den Nischenboden, der sozusagen vor unseren Augen zu einem grünen Rasen wird. Es liegt nahe, dass sich Rogier mit der aus der antiken Kunsttheorie stammenden Idee des „Paragone“ (des Wettstreits zwischen den Gattungen Skulptur und Malerei) beschäftigt hat. Für Jochen Sander dienen der erstaunliche Detailrealismus und die real wirkenden Figuren dazu, dass sich „vor den Augen des gottesfürchtigen Beters und als Belohnung für seine Bildandacht das gemalte Abbild der verehrten Heiligen visionär in deren verlebendigtes Urbild verwandelt“ (Sander 2008, S. 77).
Josef von Arimathäa erbittet von Pilatus, den toten Christus vom Kreuz nehmen zu dürfen
Der den Figuren zugemessene Raum ist eng begrenzt – nicht nur von den gemalten hölzernen Wänden, sondern ebenso von den durch die Maßwerkzwickel nachdrücklich betonten Vorderkanten des Kastens, die mit der Bildfläche des Gemäldes in eins fallen. Keine Figur durchstößt diese Bildfläche nach vorn, zum  Betrachter hin; alle Personen sind stattdessen so präsentiert, dass sie innerhalb des Altarkastens verbleiben, „als müsste dieser von klappbaren Flügeln verschlossen werden können“ (Sander 2008, S. 77). Dies wird besonders an der geradezu verdreht wirkenden Klagegeste der Figur ganz rechts deutlich.
Aber obwohl die Raumtiefe, geometrisch gesehen, nur Schulterbreite beträgt, sind dennoch nicht weniger als fünf verschiedene Tiefenschichten auszumachen. Am deutlichsten sind sie in der Mittelgruppe zu erkennen. Die vorderste Ebene bildet Maria mit ihrem vorgestreckten Ellbogen. Der Tiefe nach folgen ihr der Leichnam Christi, bei dem sich Arme und Beine in der gleichen Ebene erstrecken wie der Torso. Dann folgt der bärtige Josef von Arimathäa: Seine Schultern sind frontal zu sehen, die Beine in ihren eng anliegenden roten Strümpfen hingegen im Profil. Ihm vor allem fällt die Aufgabe zu, den Leichnam zu stützen, indem er sein Knie gegen das Gewicht seiner Last stemmt. Die vierte Schicht stellt das Kreuz dar, das auf ein symbolisch zu verstehendes Nebenmotiv reduziert ist, und in der fünften erscheint, an die Rückwand gepresst, ein Gehilfe auf einer Leiter. Gerade diese hinterste Figur durchbricht allerdings die räumliche Illusion. Denn von den zwei Kreuzesnägeln, die der Diener in der Händ hält, ragt einer aus dem Rahmen der Nische vor: Mit einem Schlag sind die Ebenen vertauscht, und die stereoskopische Wirkung ist verschwunden.
Das Blut aus der Seitenwunde Christi scheint unter dem Lendentuch durch,
ehe es weiter am Oberschenkel hinabrinnt
Die diagonal geschwungenen Körper der Maria und des Erlösers antworten als parallele Figuren den aufrecht stehenden Gestalten. „Diese Vertikalen wirken wie Taktschläge, die die Komposition von einer Seite zu anderen vorwärtstreiben und die gegebene Geometrie mit ihrem lockeren Rhythmus durchdringen“ (De Vos 1999, S. 20). Wie Christus wird Maria von zwei Assistenzfiguren gestützt. Diese Parallelisierung veranschaulicht einen wichtigen theologischen Gedanken der damaligen Zeit – Marias Mitleiden lässt sie zur Co-redemptrix werden, zur Mitwirkenden an der Erlösungstat Jesu. Trotz dieser Angleichung Mariens an Christus bleibt der tote Sohn der ohnmächtigen Mutter übergeordnet – er wird höher gehalten und nimmt die Bildmitte ein. Spiegelbildlich am linken und rechten Bildrand positioniert, umschließen die gebeugten Gestalten des Johannes und der Maria Magdalena das gedrängte Geschehen in der Mitte.
Nikodemus in seiner zeitgenössischen kostbaren Tracht ist der einzige Akteur
mit porträthaften Zügen– vielleicht handelt es sich um einen der Stifter des Altars
Nikodemus wiederum blickt diagonal über den Leichnam Christi auf einen am Boden liegenden Schädel – zusammen mit dem Armknochen ein symbolischer Hinweis auf den Hügel Golgatha („Schädelstatte“), auf dem Jesus hingerichtet wurde. Aber der Schädel kann auch theologisch gedeutet werden: Nach einer mittelalterlichen Legende wurde Jesus an dem Ort gekreuzigt, an dem sich das Grab Adams befand. Durch den Sündenfall des ersten Menschen kam der Tod in die Welt; durch das Sterben des neuen Adam, Christus, wurde der Tod endgültig überwunden. „Der Blick des Nikodemus ist ein brillanter künstlerischer Gedanke: Er verbindet die Hände Christi und der Maria – des neuen Adam und der neuen Eva – mit dem Totenschädel und veranschaulicht damit nicht mehr und nicht weniger als die Kontemplation über das Wesen der Erlösung“ (De Vos 1999, S. 25).
Der herabgenommene Leichnam Jesu liegt auf einem Grabtuch; es erinnerte jeden Kundigen daran, daß der Priester die Monstranz mit verhüllten Händen trägt und daß die Hostie nie auf den Altarstein, sondern auf ein besonders gestaltetes Corporale gelegt wird“ (Suckale 2001, S. 16). Rogier präsentiert Christus also auch als Hostie – eine Deutung, die bei einem Altarbild naheliegt und einleuchtet. Deswegen sehen wir nicht nur eine Kreuzabnahme (depositio), sondern zugleich eine Erhebung des Leichnams (elevatio), „in sinnfälliger Angleichung an die Elevation der Hostie in der Messe; damit wird der sakramentale Sinn des Geschehens noch deutlicher“ (Suckale 2001, S. 16).
Die Träne als gemalte Perle
Die meisten Akteure weinen (bis auf den Diener und die beiden ältesten Männer), sogar über Marias Gesicht strömen die Tränen, obwohl sie in todesähnlicher Ohnmacht zusammengebrochen ist. „Man könnte sagen, daß die gemalte Träne, eine schimmernde, aus den stärksten Emotionen geborene Perle, das verkörpert, was die Italiener an früher flämischer Malerei am meisten bewunderten: malerische Brillanz und Gefühl“ (Panofsky 2001, S. 254). Atemberaubend ist in der Nahsicht die Wirklichkeitsnähe, mit der die verschiedenen Stoffe und Materialien erfasst sind: Man erkennt die Dicke und Schwere der einzelnen Stoffe oder die Struktur der unterschiedlichen Pelzarten. Dieser „niederländische Realismus“ hat schon damals höchste Bewunderung ausgelöst, und er verdient sie noch heute.
Maria als Miterlöserin
Neun Personen sind auf Rogiers Kreuzabnahme beteiligt, während die biblischen Berichte nur von zweien sprechen: Josef von Arimathäa, ein wohlhabendes Mitglied des Sanhedrin, dem obersten Gericht der Juden, das Jesus verurteilt hatte, bat Pilatus um die Erlaubnis, den Leichnam Christi zu bestatten. Er nahm den Leichnam vom Kreuz und trug ihn in ein Grab, das er für sich selbst aus einem Felsen hatte aushöhlen lassen. Dabei half ihm Nikodemus, ein anderer Pharisäer und ebenfalls ein heimlicher Jünger Jesu (Matthäus 27,57-60; Lukas, 23,50-53; Johannes 19,38-42).
Eine der Figuren, die in den biblischen Berichten fehlen: Maria Magdalena
Die Kreuzabnahme diente ursprünglich als Altarbild in der heute zerstörten Marienkapelle der Löwener Schützengilde. Auf den Auftrag durch diese Gilde (oder durch eines ihrer Mitglieder) verweisen die kleinen Armbrüste in den gemalten Maßwerkzwickeln des Bildes. Es muss vor 1443 entstanden sein, dem Datum seiner frühesten Kopie. Vor 1548 erwarb Maria von Ungarn, Regentin der Niederlande, das Gemälde von den Löwener Schützen für ihre Sammlung auf Schloss Binche. Später gelangte es in den Besitz ihres Neffen, König Philipp II. von Spanien, der es schließlich 1574 in dem von ihm gegründeten Kloster El Escorial, nicht weit von Madrid, unterbrachte. Damals bildete die Kreuzabnahme die Mitte eines Triptychons, doch fehlt jeder Hinweis darauf, dass die Flügel ebenfalls von Rogier van der Weyden stammen. Der Weg der Tafel endete schließlich 1939 im Madrider Prado, wo es bis heute eines der Prunkstücke des berühmten Museums bildet.
Meister des Bartholomäus-Altars: Kreuzabnahme (um 1490); Paris, Louvre
Eines der wichtigsten Altarbilder, denen Rogiers Kreuzabnahme als Vorbild diente, stammt von dem sogenannten Meister des Bartholomäus-Altars. Bei der heute im Louvre aufbewahrten, wahrscheinlich um 1490 entstandenen Tafel bildet ebenfalls ein Goldgrund die Rückwand des fiktiven Altarraums, der jedoch zusätzliche Tiefe erhält durch den mit Bolus plastisch herausgearbeiteten Rahmen und den Schattenwurf der Figuren.


Literaturhinweise
Barasch, Mosche: The Crying Face. In: artibus et historiae 15 (1987), S. 21-36;
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994;
De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München1999;
Ganz, David: Spuren der Bildwerdung. Zur Medialität gemalter Tränen im Spätmittelalter. In: Beate Söntgen/Geraldine Spiekermann (Hrsg.), Tränen. Wilhelm Fink Verlag, München 2008, S. 27-40; 
Geppert, Silke: Mode unter dem Kreuz. Kleiderkommunikation im christlichen Kult. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2013, S. 49-63;
Kemperdick, Stephan: Rogier van der Weyden. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1999;
Kemperdick, Stephan: Von der Vorlage zum Kunstwerk. Rogier van der Weydens ,Große Kreuzabnahme‘. In: Wolfgang Augustyn/Ulrich Söding (Hrsg.): Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung. Dietmar Klinger Verlag, Passau 2010, S. 207-230;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953);
Sander, Jochen: Die Rekonstruktion von Künstlerpersönlichkeiten und Werkgruppen. In: Stephan Kemperdick/Jochen Sander (Hrsg.), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Städel Mueum, Frankfurt am Main 2008, S. 75-93;
Simson, Otto G. von: Compassio and Co-redemptio in Roger van der Weydens Descent from the Cross. In: The Art Bulletin 35 (1953), S. 9-16;
Suckale, Robert: Rogier van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zu Rhetorik und Theologie. In: Reinhard Brandt (Hrsg.), Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol. Reclam Verlag, Leipzig 2001, S. 10-44.

(zuletzt bearbeitet am 13. April 2022)

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