Mittwoch, 28. November 2012

Rainer Maria Rilke: Die Treppe der Orangerie

© Charles Guy

Die Treppe der Orangerie
Versailles



Wie Könige die schließlich nur noch schreiten 

fast ohne Ziel, nur um von Zeit zu Zeit 

sich den Verneigenden auf beiden Seiten 

zu zeigen in des Mantels Einsamkeit – : 



so steigt, allein zwischen den Balustraden, 

die sich verneigen schon seit Anbeginn, 

die Treppe: langsam und von Gottes Gnaden 

und auf den Himmel zu und nirgends hin; 



als ob sie allen Folgenden befahl 

zurückzubleiben, – so dass sie nicht wagen 

von ferne nachzugehen; nicht einmal 

die schwere Schleppe durfte einer tragen.


Rainer Maria Rilke

Montag, 26. November 2012

Destroyed but not defeated – der „Faustkämpfer“ aus dem Thermenmuseum in Rom

Faustkämpfer, Bronzeskulptur des Hellenismus (3. Jh.v.Chr.), Rom,
Palazzo Massimo alle Terme, (für die Großansicht einfach anklicken)
Als im März 1885 in Rom die antike Bronzestatue eines Boxers ausgegraben wurde, war die Verblüffung groß: Der Faustkämpfer entsprach mit seinen realistischen Zügen, vor allem seinem verunstalteten Gesicht so ganz und gar nicht der „klassischen Schönheit“, die man von einer griechischen Skultptur erwartet hatte. Alles an diesem Mann widersprach der „edlen Einfalt und stillen Größe“, die man seit Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) an der Kunst der Griechen rühmte.
Der Mann sitzt vornübergebeugt mit gespreizten Beinen und stützt sich mit seinen Unterarmen auf den Schenkeln ab. Eben noch mag er vor sich hin gestarrt haben, jetzt aber dreht er den Kopf in einer ruckartig spontanen Bewegung zur Seite und blickt nach oben (seine gläsernen Augen sind verlorengegangen). Sieht er sich nach den schreienden Zuschauern um, oder hält er Ausschau nach dem soeben angekündigten nächsten Gegner? Denn bei den Griechen wurde nach dem K.o.-System gekämpft, und der Sieger hatte es sogleich mit dem Gewinner aus einer anderen Paarung aufzunehmen.
Hat ordentlich was abgekriegt: die zerschlagene Visage eines Kämpfers
Der bronzene Boxer ist weder besiegt noch am Ende seiner Kräfte angekommen; die Muskeln der Arme und Beine bleiben bezeichnenderweise auch in der Ruhehaltung gespannt. Offensichtlich hat er gerade einen besonders schweren Kampf hinter sich gebracht, denn sein Gesicht weist zahlreiche Wunden auf. Diese sind wie die Lippen, Brustwarzen und Riemen durch glänzende Kupfereinlagen hervorgehoben, so z. B. an den regelrecht zerschlagenen Ohren, auf den Wangen, den Schläfen und auf der Stirn. Zum Teil sind die kupfernen Inletts weiterer Wunden herausgefallen.
Zusätzlich zu diesen frischen rötlichen Verletzungen findet man Spuren von schweren Treffern, die von vorangegangen Kämpfen stammen könnten – so die gebrochene und deformierte Nase. Selbst auf den Lippen sieht man Wunden und Narben. Die Zähne waren, wie die Augen, eingesetzt; vermutlich wurden sie im Oberkiefer allerdings ausgeschlagen. Darauf deutet jedenfalls der vorstehende Unterkiefer hin. Der Mann atmet offensichtlich durch den Mund, wahrscheinlich weil seine Nase durch das geronnene Blut verstopft ist. Keine Frage: Wir haben es hier mit der überaus realistischen Wiedergabe eines Boxergesichts unmittelbar nach einem Kampf zu tun. Vergleicht man es mit den idealschönen Athletenköpfen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. (ich nenne hier als Beispiel den Diadumenos des Polyklet), dann kann man die Verblüffung der damaligen Archäologen nachvollziehen.
Polyklet: Diadumenos, römische Marmorkopie
Im Gegensatz zum Gesicht ist der Körper des Faustkämpfers völlig unverletzt. Die Blutstropfen auf dem rechten Unterarm und Oberschenkel stammen nicht von einer Wunde an den entsprechenden Stellen, sondern sind herabgetropft. Auch dies ist ein realistischer Zug der Skulptur, denn die damaligen Kampfregeln erlaubten nur Schläge auf den Kopf, nicht aber auf den Körper. Wir sehen einen vollkommen durchtrainierten Athletenleib mit ausgesprochen langen Beinen, ausladenden Schultern, einer breiten Brust, einem muskulösen Rücken, einem wuchtigen Nacken und dicken Hals und einem in den Proportionen kleinen Kopf. „Auch das an der Vorhaut aufgebundene Glied ist im übrigen ein realistisches Charakteristikum eines Athletenkörpers“ (Zanker 2005, S. 35).
Ein anderes Kaliber als heutige Boxhandschuhe: antike Faustriemen
Die Boxhandschuhe sind ebenfalls einer eingehenderen Betrachtung wert: Hände und Unterarme sind zunächst mit einem Handschuh aus Wolle oder nach innen gekehrtem Fell bedeckt, der von den Unterarmen bis zum zweiten Fingerglied reicht. Er sollte die Verschnürung des Schlagriemens sichern und sein Verrutschen verhindern. Der verstärkte Abschluss der Fingerhandschuhe ist mit eingelegten Kupferbändern hervorgehoben. Der kompakte „Schlagring“ selbst besteht „aus drei übereinander gelegten Streifen ungegerbten Leders mit scharfen Kanten (himas oxus), die durch schmale und weiche Querriemen zusammengehalten wurden“ (Zanker 2005, S. 37). Einmal eingeführt, blieben diese Faustriemen bis ans Ende der Antike in Gebrauch. Der himas oxus garantierte eine Härte der Schläge, die weit über die der heutigen Boxhandschuhe hinausging.
Trunkene Alte (röm. Kopie nach hellenistischem Original aus dem späten 3. Jh. v.Chr.);
München, Glyptothek 
Für die Verbindung von Sitzmotiv, blockhaft gestaltetem Körper und pathetischer Kopfwendung hat man auf die Trunkene Alte in der Münchner Glyptothek hingewiesen – eine Komposition, die ebenfalls überaus realistische Formen aufweist (siehe meinen Post „Der Trost der Trauben“). Beide Skulpturen sind darüber hinaus auf Mehransichtigkeit konzipiert – ein wichtiges Kritierium, um sie in die Zeit des frühen Hellenismus zu datieren (3. Jh. v.Chr.). Der sitzende Faustkämpfer fordert seinen Betrachter regelrecht dazu auf, um ihn herumzugehen, ihn von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten, vor allem von vorn, schräg von seiner Rechten und im Profil mit dem nach oben gewandten Gesicht. Das Gesicht und die Boxhandschuhe sind explizit auch für eine nahsichtige, auf das Detail ausgerichtete Betrachtung gestaltet – woraus sich auch ergibt, dass die Statue einst niedrig aufgestellt gewesen sein muss. Im Gegensatz zu dieser Viel- und Nahansichtigkeit betonten die Skulpturen der griechischen Klassik (5. und 4. Jh. v.Chr.) eine bestimmte Schauseite, die im Ganzen wahrgenommen werden sollte.
Der Faustkämpfer trägt noch heute deutliche Spuren davon, dass er lange an einem belebten Platz gestanden haben muss: Die Oberseite des Boxriemens seiner linken Hand, aber auch einige Finger und Zehen sind durch dauerndes Betasten ganz abgeschliffen. Man muß das mit einem antiken Aberglauben zusammenbringen, demzufolge Athletenstatuen Heilkräfte besitzen, die man durch Berühren auf sich leiten kann“ (Himmelmann 1996, S. 139).
Der Bildhauer, der den Faustkämpfer geschaffen hat, zeigt ungeschönt, in welchem Zustand sich selbst ein hervorragender Boxer nach einem harten Kampf befindet. „In geradezu penetranter Weise hat er seinen Helden als ein Gegenbild zu den schönen Siegerstatuen der vorangegangenen Generationen gestaltet. Er zeigt, wie entstellt sein malträtiertes Gesicht aussieht, wie häßlich und unkontrolliert er in seiner Erschöpfung da hockt, wie sein ganzes Interesse nur noch dem nächsten Gegner, dem Durchkommen und dem endgültigen Sieg gilt“ (Zanker 2005, S. 44). Dass dieser Athlet dennoch nicht verächtlich gemacht werden sollte, zeigen die Spuren der Verehrung an der Skulptur. Nikolaus Himmelmann geht davon aus, dass es sich um einen berühmten Boxer der Vergangenheit handelt, dessen Andenken noch in der Zeit der Statue lebendig war und dessen magische Heilkräfte damals noch gesucht wurden“ (Himmelmann 1996, S. 143/144). Der Kopf allerdings zeigt, so Himmelmann, kein echtes Porträt, sondern orientiert sich an dem Typus des mythischen Helden Herakles.
Zeigen, wie es wirklich ist
Herkules-Büste (2. Jh. n.Chr.); London, British Museum
Der hellenistische Epoche bringt eine regelrechte „Gegenkunst“ hervor, die sich von den idealschönen, exemplarischen Körpern der griechischen Klassik abgrenzt. Der Mensch soll jetzt gezeigt werden, wie er wirklich ist, als Individuum und in all seiner Kreatürlichkeit, in charakteristischen Situationen, festgehalten in einem alltäglichen Augenblick. Leider gehört diese Epoche der griechischen Skulptur zu den am schlechtesten überlieferten. Der Grund: Die meisten bedeutenden griechischen Kunstwerke sind uns durch römische Kopien bekannt. Die römische Kaiserzeit war in ihrer kulturellen Ausrichtung durch und durch „klassizistisch“: Was man an der griechischen Kunst vor allem schätzte, waren die idealschönen Körper. „Weder die Villenbesitzer noch die Ausstatter der öffentlichen Gebäude hatten ein besonderes Interesse an Kopien realistischer Meisterwerke der frühhellenistischen Kunst“ (Zanker 2005, S. 46) – obwohl sie nicht weniger bewundernswert ist als die der griechischen Klassik.
Poseidon vom Kap Artemision (5. Jh.v.Chr.); Athen, Ärchäologisches Nationalmuseum
Der Faustkämpfer ist eine von nur sieben erhaltenen griechischen Bronzestatuen. Die anderen sind der Wagenlenker von Delphi, der Poseidon vom Kap Artemision, der Reiter vom Kap Artemision, die beiden Bronzestatuen von Riace und der Thermenherrscher.

Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001;
Brinkmann, Vinzenz (Hrsg.): Zurück zur Klassik. Ein neuer Blick auf das alte Griechenland. Hirmer Verlag, München 2013, S. 330; 
Himmelmann, Nikolaus: Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom Quirinal. Olivetti, Milano 1989;
Himmelmann, Nikolaus: Minima Archaeologica. Utopie und Wirklichkeit der Antike. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996, S. 135-151;
Klünker, Annegret: Zwischen Ideal und ,Wirklichkeit‘ – die Statuen griechischer Athleten. In: Christiane Nowak/Lorenz Winkler-Horaček (Hrsg.), Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Realismen in der griechischen Plastik. Verlag Marie Leidorf, Rahden/Westfl. 2018, S. 77-94;
Zanker, Paul: Der Boxer. In: Luca Giuliani (Hrsg.), Meisterwerke der antiken Kunst. Verlag C.H. Beck, München 205, S. 28-49.

(zuletzt bearbeitet am 31. Januar 2024)
 
Material
 
I.
 

„Die Statue zeigt einen muskulösen Athleten mittleren Alters. Er hat einen dichten Bart und kurzes lockiges Haar. Abgesehen von der verräterischen gebrochenen Nase und den typischen Blumenkohlohren des Boxers hat der Faustkämpfer auch die schräg abfallenden, hängenden Brauen, die auf zerrisene Gesichtsnerven hinweisen. Die Stirn ist voller Narbengewebe. Wie zu erwarten, hat der Kämpfer die Muskulatur eines Boxers. Sein Nacken und sein Trapezmuskel sind gut entwickelt. Seine  Schultern sind gewaltig, seine Vorderseite ist kräftig und flach, ohne die schwellenden Brustmuskeln der Bodybuilder. Seine Rücken- und Bauchmuskeln heben sich deutlich ab, und er besitzt auch eine der Stärken des modernen Boxers: stämmige Beine. Die Arme sind breit, besonders die Unterarme, die durch die Lederriemen des mit Eisenstücken gepanzerten Handschuhs verstärkt werden. Er hat den Körper eines kleinen Schwergewichtlers: nicht wuchtig, sonndern geschmeidig, aber trotzdem sehr kräftig: ein Jack Johnson oder Dempsey, könnte man sagen. Wenn man die Statue selbst sieht, im Thermenmuseum in Rom, erkennt man, daß der sitzende Boxer tatsächlich nicht mehr als ein Halbschwergewicht ist. Die Leute waren damals nicht groß. Der entscheidende Punkt sind die vollendeten Proportionen.

   Der Faustkämpfer sitzt auf einem Stein und stützt die Unterarme auf die Schenkel. Daß er sitzt und nicht herumtänzelt, läßt vermuten, daß er das alles schon oft mitgemacht hat. Er spart seine Kräfte. Sein Kopf ist zur Seite gedreht. Als ob ihm gerade jemand etwas zugeflüstert hätte, blickt er über die Schulter. Darin zeigt sich die »Kunst« der Statue. Hat man den Faustkämpfer gerade in die Arena gerufen? Er sieht ein bißchen verwirrt aus, aber es gibt keine Spur von Furcht in seinem Gesicht. Es hat den Anschein, daß er loslegen will, daß er keine Schwierigkeiten machen oder Verzögerungen verursachen will, auch wenn sein Leben gleich auf dem Spiel steht. Abgesehen von den Entstellungen liegt auch ein Hauch von Müdigkeit und Resignation auf seinem edlen Gesicht.“

Thom Jones

 

(aus: Thom Jones, Ruhender Faustkämpfer. Stories. Aus dem Amerikanischen von Lutz-W. Wolff. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1997, S. 23/24)

 

Mittwoch, 21. November 2012

Die Cappella Paolina: Michelangelos letzte Fresken

Michelangelo: Kreuzigung Petri (1546-1550); Rom, Cappella Paolina
Wahrscheinlich hätte sich jeder andere 66-jährige Künstler nach Vollendung des Jüngsten Gerichts eine Verschnaufpause gegönnt – nicht so Michelangelo. Fünf Jahre Arbeit hatte ihn das gewaltige Wandfresko an der Stirnwand der Sixtina gekostet (1536–1541), doch die Farben waren kaum getrocknet, da ließ er sich schon von Papst Paul III. für die Ausmalung der Cappella Paolina im Vatikan engagieren. Seine beiden großformatigen Fresken (6 x 6 m) entstanden zwischen 1542 und 1550 und zeigen die Bekehrung des Saulus auf der einen und die Kreuzigung Petri auf der anderen Seite, also zum einen den Namensheiligen von Papst Paul III. und zum anderen die päpstliche Identifikationsfigur schlechthin. „Programmatisch für die Themenwahl dürfte die Gegenüberstellung einer Bekehrung und eines Martyriums sein: Die Bekehrung konnte hier als Berufung verstanden werden, das Martyrium als die ultimative Konsequenz apostolischen Wirkens in der Nachfolge Christi“ (Zöllner 2007, S. 466).
Anders als die Sixtina ist die Cappella Paolina für Besucher nicht zugänglich; auf der vom Eingang gesehenen linken Seitenwand befindet sich Michelangelos fast quadratisches Fresko Bekehrung des Saulus (6,25 x 6,61 m)
Die zwischen 1538 und 1546 von Antonio da Sangallo d.J. (1484–1546) neu errichtete Cappella Paolina befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Sala Regia, dem päpstlichen Audienzsaal, und zur Sixtinischen Kapelle. Von der Funktion her war dieser Raum Sakraments- und Konklavekapelle, d. h., hier wurde die konsekrierte Hostie aufbewahrt, und hier fand 1549/50 die Wahl des Papstes während der Zusammenkunft der Kardinäle statt. Die Fresken Michelangelos befinden sich auf den beiden mittleren, etwas zurückgesetzten Wandflächen. Sie nehmen die gesamte Fläche zwischen der Sockelzone, den Pilastern und dem Gebälk ein. Durch die hohe Sockelzone bedingt, werden die Wandgemälde in leichter Untersicht betrachtet.
Michelangelo freskierte zuerst die vom Eingang aus gesehene linke Seitenwand mit der Bekehrung des Saulus (Apostelgeschichte 9,1-19). Das Wandgemälde zeigt im sandfarbenen Bildvordergrund den vom Pferd gestürzten, am Boden liegenden Saulus; von oben hat sich der in kühner perspektivischer Verkürzung dargestellte Christus genähert, umgeben von größtenteils nackten Figuren, die wohl als Engel und Selige zu deuten sind. Sein Licht hat den Christenverfolger geblendet und erblinden lassen. Das dramatische Ereignis findet in einer kahlen, hellgrünen, leicht hügeligen Landschaft statt; am rechten Bildrand ist das eigentliche Reiseziel des Saulus zu erkennen – Damaskus. 
Michelangelo hat Saulus nah an den Bildvordergrund herangerückt; sein Haupt ist zum Betrachter gewandt, der Mund leicht geöffnet, die Augen sind geschlossen, und die Stirn liegt schmerzverzerrt in Falten: Er wirkt „vollständig in sich gekehrt und verharrt ohne eine Reaktion auf seine Umwelt in einem Zustand vollkommener Trance“ (Hemmer 2003, S. 140/141).
Michelangelo: Bekehrung des Saulus (1542-1545); Rom, Cappella Paolina (für die Großansicht einfach anklicken)
Michelangelo teilt das Bildfeld deutlich in einen irdischen und einen himmlischen Bereich. Ungewöhnlich an seiner Komposition ist, dass nicht der gestürzte Saulus, sondern dessen in den Hintergrund fliehendes Pferd (das im biblischen Bericht übrigens gar nicht erwähnt wird) das Zentrum des Freskos bildet. Auch die meisten Gefährten des zukünftigen Apostels verlassen mit dem aufgescheuchten Pferd fluchtartig den Schauplatz, statt sich um Saulus zu kümmern: Halbkreisförmig laufen sie regelrecht auseinander. Ein wenig links von Saulus nähert sich allerdings ein Mann, der als einziger Akteur scheinbar völlig unbeeindruckt ist von der Erscheinung Christi. Er ist im Begriff, Saulus zu helfen, indem er mit beiden Armen nach ihm greift und ihn zu stützen oder aufzurichten versucht. Neben ihm steht ein weitere begeliter des Saulus, der mit seinem rechten Arm einen Schild schützend nach oben hält und mit der linken Hand sein Schwert zieht.
Bei der Kreuzigung Petri auf der rechten Kapellenwand orientierte sich Michelangelo an der Legenda aurea. Verfasst hat diese Sammlung von Heiligenviten Jacobus de Voragine (um 1230–1298) – sie war das bekannteste und am weitesten verbreitete religiöse Volksbuch des Mittelalters. Dort wird ausführlich vom Martyrium des Apostelfürsten berichtet: Petrus sei an der Stelle gekreuzigt, an dem sich heute der Petersdom befindet. Aber weil er sich nicht für würdig hielt, wie Christus zu sterben, habe er darauf bestanden, mit dem Kopf nach unten hingerichtet zu werden. 
Filarete: Kreuzigung Petri, Relief aus der mittleren Bronzetür an der Frontseite von St. Peter in Rom,
entstanden 1439–1445
Giotto: Kreuzigung Petri, linke Bildtafel aus dem Stefaneschi-Altar (1313), Rom, Vatikanische Museen;
anders als Michelangelo zeigen seine Vorgänger  Giotto und Filarete das Kreuz bereits vollständig
aufgerichtet und an einem wiedererkennbaren antik-römischen Ort
Filippino Lippi: Kreuzigung Petri (1481-1485); Florenz, Santa Maria del Carmine/Brancacci-Kapelle
Filippino Lippi (1457–1504) ist der erste Künstler, der darstellt, wie die Schergen das Kreuz Petri aufrichten – in allen früheren Darstellungen ist die Hinrichtung bereits vollzogen. Diese Idee greift Michelangelo auf, ohne jedoch Lippis symmetrische Komposition aus der Brancacci-Kapelle in Florenz zu übernehmen. Antonio Forcellino sieht auch in dem Soldaten links unten, der sich auf seine Lanze stützt und Petrus betrachtet, eine Verbindung zu Lippis Fresko. Die Reiter links oben wiederum könnten von Giottos Stefaneschi-Altar angeregt sein.
In einer kahlen Landschaft, ähnlich der in der Bekehrungsszene gegenüber, sind auf einem fast runden, podestähnlichen Hügel einige Männer damit beschäftigt, das Kreuz aufzurichten, an das Petrus mit dem Kopf nach unten genagelt ist. Der Betrachter schließt sich links von der Kreuzigungsszene gleichsam dem Gefolge der Soldaten an, die den Hügel erklimmen, auf dem Petrus hingerichtet wird. Soldaten und Augenzeugen steigen im Uhrzeigersinn auf und ab, und so kommt eine langsam kreisende Bewegung zustande, die mit dem Kreuz korrespondiert, das unter großen Mühen aufgerichtet wird (Wallace 1999, S. 190). Diese Umrundung des diagonal in den Bildraum ragenden Kreuzes endet am rechten unteren Rand, wo sich eine Gruppe klagendender Frauen aneinander drängt, von denen zwei eindringlich anstarren. Die Zentripetalbewegung wiederholt sich dann nochmals bei den Peinigern des Märtyrers, die Michelangelo wiederum keisförmig um das Kreuz angeordnet hat. Auf diese Weise wird der Blick des Betrachters geradezu sogartig auf das Zentrum der vielfigurigen Komposition gelenkt, nämlich Petrus.
Wie ein griechischer Chor vermitteln die Frauen zwischen uns und dem Drama an der Kapellenwand
Niemand anderes als der Betrachter ist mit diesem Blick gemeint
Petrus ist perspektivisch verkürzt und wie ein Athlet dargestellt, außerdem erkennbar größer als alle übrigen Figuren. Seinen Oberkörper hat er vom Kreuzbalken weg aufgerichtet, dabei den Kopf angehoben und nach rechts gedreht. Mit ebenso deutlich nach rechts ausgerichteten Augen und einem strengen, keineswegs leidenden Gesichtsausdruck blickt er den betrachter an. Es ist dieser ernste, mahnende Blick, der den stärksten Eindruck hinterlässt. Und es ist die Figur Petri, des ersten Stellvertreters Christi, die man vom Altar aus in der wirren Menge am deutlichsten erkennt. Sie „erinnert daran, daß das Opfer eine christliche Pflicht ist und wir nur durch das Opfer Christi ewiges Leben erlangen“ (Wallace 1999, S. 190). 
Der Legenda aurea zufolge beginnt während der Kreuzigung Petri einer der Neugetauften über diesen Frevel zu murren und will die anderen aufwiegeln. Doch Petrus selbst gebietet ihnen, sich zu beruhigen, weil sich sein Märtyrerschicksal erfüllen müsse. Auch diese Begebenheit gibt das Fresko wieder: Empört zeigt der oben in der Bildmitte stehende Mann auf Petrus und wendet sich an die römischen Soldaten, die herbeieilen, weil sie sich das Martyrium nicht entgehen lassen wollen. Seine Freunde halten ihn zurück und bedeuten ihm mit der Geste des auf den Mund gelegten Fingers zu schweigen. Einer der Männer weist mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand nach oben, um daran zu erinnern, dass alles, was hier geschieht, himmlischer Wille ist und einem göttlichen Plan folgt.
Einfache, äußerlich ärmlich gekleidete Menschen jeden Alters kommen rechts über den Hügel und ziehen verzagt an Petrus und den Schergen vorbei. Diese Zeugen des Apostelmartyriums sind vermutlich die ersten Christen, die durch die Predigt des Petrus den neuen Glauben angenommen haben. „Dieses Volk ist die eigentliche Kirche“, so Forcellino, „durch die Schlichtheit dieser Figuren, so himmelweit entfernt von allen Formen kirchlicher Repräsentation, wie sie zu Michelangelos Zeit inszeniert wurden, wird die Darstellung des Martyriums zu einer Proklamation der Kirche der Gläubigen gegen die Amtskirche: eine Vorstellung, die Michelangelo mit den »Spirituali« teilte und die schon seit Jahren von den konservativsten Kreisen der römischen Kurie als ketzerisch betrachtet wurde“ (Forcellino 2006, S. 299).
Saulus als bärtiger alter Mann: ein Kryptoporträt Michelangelos
Immer wieder wird in der kunsthistorischen Forschung diskutiert, ob sich Michelangelo in den beiden Wandgemälden nicht versteckt selbst porträtiert habe. Weitgehend einig ist man sich, dass der als bärtiger alter Mann freskierte Saulus die Züge Michelangelos trägt. Für dieses Selbstbildnis wich der Künstler sogar von der biblischen Historie ab, denn Saulus war zum Zeitpunkt seiner Bekehrung noch kein alter Mann – was zur Folge hatte, dass der Apostel in den meisten Fällen relativ jung dargestellt wurde.

Leone Leoni: Porträtmedaille Michelangelos (1560)
Auch die Kreuzigung Petri könnte ein Selbstporträt enthalten. Am rechten Bildrand führt ein alter Mann die Gruppe der Trauernden an; in Vorderansicht und voller Körpergröße kommt er dem Betrachter entgegen, sein mit einer Kapuze bedecktes Haupt ist gesenkt, die Arme sind zum Gebetsgestus vor der Brust verschränkt. Diese Figur ähnelt deutlich einer berühmten Porträtmedaille von Leone Leoni (1509–1590), die auf der Vorderseite Michelangelo im Profil und auf der Rückseite in Gestalt eines blinden, alten Pilgers zeigt. Auf dem Revers findet sich außerdem ein Zitat aus den Psalmen (50,15), dass von der Umkehr des Sünders spricht. „Dieses von Michelangelo selbst autorisierte Porträt ist damit als Glaubensbekenntnis des alten, zu intensiverer Religiosität konvertierten Künstlers zu deuten“ (Zöllner 2007, S. 466). Michelangelo hat also in seinen letzten Fresken – ebenso wie in seinen letzten Skulpturen – auch sich selbst und seinen Glauben zum Thema gemacht.
Die Cappella Paolina kann übrigens im Gegensatz zur Sixtina nicht besichtigt werden, da es sich um die Privatkapelle des Papstes handelt. Damit mag auch zusammenhängen, dass es keine frei verfügbaren und annähernd farbgetreuen Fotos von der Bekehrung des Saulus gibt (von Detailaufnahmen abgesehen) – was mich doch ziemlich wurmt. Denn Michelangelos Wandbilder wurden von 2005 bis 2009 restauriert und erstrahlen wie die Fresken der Sixtina nun wieder in ihrer ursprünglichen Farbenpracht. Wer mit Bildmaterial aushelfen kann, der melde sich!

Literaturhinweise
Forcellino, Antonio: Michelangelo. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2006, S. 292-302;
Hemmer, Peter: Michelangelos Fresken in der Cappella Paolina und das Donum Iustificationis. In: Tristan Weddigen u.a. (Hrsg.), Functions and Decorations. Art and Ritual at the Vatican Palace in the Middle Ages and the Renaissance. Brepols Publishers, Turnhout 2003, S. 131-152; 
Oy-Marra, Elisabeth: Die Konversion des Saulus/Paulus am Beispiel Parmigianinos, Michelangelos und Caravaggios. In: Ricarda Matheus u.a. (Hrsg.), Barocke Bekehrungen. Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit. transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 279-299;
Wallace, William E.: Narrative and Religious Expression in Michelangelo’s Pauline Chapel. In: artibus et historiae 19 (1989), S. 107-121;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.

(zuletzt bearbeitet am 23. März 2020)

Dienstag, 13. November 2012

Kopfüber in das Heil – Caravaggios „Kreuzigung Petri“ in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo (2)

Caravaggio: Kreuzigung Petri (um 1604); Rom, Santa Maria del Popolo/Cerasi-Kapelle
Wie in meinem Post „Paulus am Boden“ angekündigt, gehe ich auch auf das zweite Wandgemälde ein, das Caravaggio (1571–1610) für die Cerasi-Kapelle in der römischen Kirche Santa Maria del Popolo geschaffen hat – die Kreuzigung Petri.
Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt in seinem Buch Ungläubiges Staunen, was die Faszinationskraft dieses Bildes ausmacht: Die Muskelfasern, die Falten, die die Kleidung der vier Personen und rechts unten das bläuliche Tuch werfen, die Barthaare, Brustwarzen und Bauchfalten Petri, seine dreckigen Fingernägel und die beinah schwarze Fußsohle, die der untere Scherge links unten dem Betrachter genau auf Kopfhöhe hinhält, der ausgeleuchtete Hintern des Schergen, der dadurch auch nicht schöner wird, die Maserung des Holzes, der Glanz auf dem Nagel und der Schaufel, die physische Anstrengung, die eine Kreuzigung für die Henker bedeutet, der Brotberuf, der sie nun einmal gewesen sein wird – alle Welt rühmt heute Caravaggios derben Realismus, an dem sich die Kritiker früher stießen (Kermani 2015, S. 124).
Für diese Komposition griff der italienische Barockmaler auf seinen Namensvetter Michelangelo zurück, der die Szene in der Cappella Paolina dargestellt hatte (1546–1550) – einer der wenigen Orte, an dem ebenfalls die Bekehrung des einen wie das Martyrium des anderen Apostelfürsten gezeigt werden (siehe meinen Post Michelangelos letzte Fresken“). Vielleicht waren Michelangelos Wandbilder auch das Vorbild, das Tiberio Cerasi, dem Stifter der Kapelle, vorschwebte, als er Caravaggio beauftragte. Caravaggio orientierte sich vor allem bei der Hauptfigur an Michelangelo, zugleich aber auch an der antiken Statue eines Fischers, die damals als Porträt des stoisch sterbenden Philosophen Seneca galt.
Michelangelo: Kreuzigung Petri (1546–1550); Rom, Cappella Paolina/Vatikanischer Palast; wie schon in der Cappella Paolina im Vatikan ist die Kreuzigung Petri auch in der Cerasi-Kapelle auf der gegenüberliegenden Wand das Pendant der Bekehrung Pauli
Um 1600 bürgerte sich für diese antike Statue die Bezeichnung Sterbender Seneca ein;
heute sieht man in ihr die Darstellung eines alten Fischers (Paris, Louvre)
In der Kreuzigung Petri ist die Handlung wie schon bei der zweiten Fassung der Bekehrung Pauli auf das Wesentliche reduziert. Anders als bei vielen früheren Darstellungen, die die Kreuzigung Petri als öffentliches Ereignis zeigen, bei Tageslicht und inmitten einer Volksmenge, ist der Märtyrer auf Caravaggios Gemälde von Dunkelheit umgeben und, abgesehen von den Henkersknechten, völlig allein. Petrus hielt sich nicht für würdig, so die Legende, wie Christus zu sterben, deswegen verlangte er von den Henkersknechten, kopfüber gekreuzigt zu werden. Der Apostel ist bereits ans Kreuz genagelt, sein nackter, nur mit einem Lendenschurz bedeckter Körper dehnt sich über die gesamte Bildbreite, von der Hand am rechten bis zu den Füßen am linken Bildrand. So weit es ihm möglich ist, hebt er Beine und Oberkörper an und liegt deswegen nur noch mit der linken Hüfte auf dem Längsbalken auf. „Caravaggios Peter emerges not as a religious icon or an established Christian authority, but as a worker, the simple fisherman from Bethsaida“ (Jansson 2013, S. 124).
Was Caravaggio jedoch vor allem zeigt, ist der Kraftaufwand der drei Schergen, die das Kreuz aufzurichten haben. Der hinterste zerrt an einem Seil, das um das untere Ende des Kreuzes geschlungen ist und sich in seinen Rücken eingräbt. Der zweite greift über die Beine des Apostels hinweg, um das Kreuz zu halten, während der dritte, am Boden hockend, die Last mit seinem Rücken hochzustemmen versucht. Verglichen mit der Anstrengung, die die Körper von der gefurchten Stirn bis in die Zehenspitzen und die bloßen Fußsohlen hinein in Anspannung hält, scheinen die Männer auf Michelangelos Fresko der Kreuzaufrichtung das Gewicht kaum zu spüren. Mit leichter Hand fassen sie an, in einer eher symbolischen Geste; Petrus selbst richtet seinen Oberkörper auf (was Caravaggio übernommen hat) und blickt aus dem Bild heraus auf den Betrachter.
Mit naturalistischem Blick schildert Caravaggio die Anatomie und Hautstruktur eines älteren Männerkörpers
Caravaggios Petrus jedoch starrt schreckgebannt auf seine linke Hand, deren Finger sich um den durch sein Fleisch in das Querholz getriebenen Nagel krampfen. Er jammert nicht, und er winselt erst recht nicht um Gnade. Und doch hat Petrus Angst. Das zeigt er nicht den Schergen, aber im Gesicht zeichnet sich sein Entsetzen ab, vor allem der offene Mund zeugt davon, dass er allein auf die Folter konzentriert ist. Bei Caravaggio, so sieht es Jutta Held, „gibt es keine Perspektive über das physische Martyrium hinaus“ (Held 2007, S. 104), kein Engel mit Märtyrerpalme (wie noch im Martyrium des Matthäus) oder sonstige Himmelszeichen verheißen jenseitigen Lohn für das standhafte Erdulden der Qualen, die um des Glaubens willen erlitten werden. 
Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi/Contarelli-Kapelle
Sybille Ebert-Schifferer erkennt in Caravaggios Folterszene dennoch die Heilsverheißung: „Die dem römischen Alltag entnommenen Bauarbeiter sind keine durch Brutalität schuldig werdenden Sünder, sondern sich abmühende Erfüllungsgehilfen einer Heilsgeschichte, die auch sie, die noch nichts sehen und begreifen, erlösen wird“ (Ebert-Schifferer 2010, S. 139). Dass Petrus nach katholischer Auffassung der Begründer der christlichen Kirche ist, verdeutlicht der Stein, den Caravaggio unübersehbar im Vordergrund platziert – in Matthäus 16,18 sagt Jesus zu ihm: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen“ (LUT).
Guido Reni: Kreuzigung Petri (1604/5), Rom, Pinacoteca
Vaticana (für die Großansicht einfach anklicken)
Der junge Maler Guido Reni (1575–1642) aus Bologna, 1601 nach Rom übergesiedelt, griff das Thema der
Kreuzigung Petri ebenfalls in einem Altarbild auf – sein Gemälde war eine deutliche Auseinandersetzung mit dem Stil des sich immer größerer Wertschätzung erfreuenden Caravaggio. Das 1604/05 entstandene Werk Renis war für die kleine Kirche S. Paolo alle Tre Fontane bestimmt, die als Martyriumsstätte des Apostel Paulus verehrt wurde. Die Anlehnung an Caravaggios wohl nur wenig früher fertiggestelltes Gemälde ist evident: hier wie dort die Beschränkung auf wenige Personen; die Entscheidung beider Künstler, die Kreuzigung statt des Gekreuzigten zu zeigen; intensive Beleuchtungseffekte; der Kontrast zwischen dem vom Alter gezeichneten Leib Petri und den muskulösen Henkersknechten. Vor allem Körperbau und Physiognomie der Schergen erinnern stark an Caravaggios Bildpersonal.
Aber auch die Unterschiede sind offensichtlich: Während Caravaggios Petrus den Kopf zur Seite wendet und den Blick auf den überdeutlich ins Fleisch eindringenden Nagel richtet, „strebt auf Renis Bild die Figur des greisenhaften Petrus ein letztes Mal und mit letzter Kraft zum Zeichen seines Martyriums empor“ (Wimböck 2011, S. 511). Das entspricht ganz den kirchlichen Märtyrerakten und deren frühchristlicher Interpretation, die zum Basiswissen der Kirchengeschichte um 1600 gehörten. In ihnen wurde vor allem betont, dass Petrus sich seinen Peinigern willentlich übergab und sein Martyrium in der Verehrung Christi bejahte. 
Renis Version orientiert sich also stärker an der hagiografischen Überlieferung als Caravaggio – was sich auch darin zeigt, dass die Hinrichung an einem vor der Stadt gelegenen Ort stattfindet. Anders als Caravaggio wählt Reni außerdem den Moment, bevor der erste Nagel eingeschlagen wird, was die Brutalität des Martyriums etwas abschwächt. Das Neue an Caravaggios Bild hingegen ist vor allem darin zu sehen, dass er die beginnende Marter Petri physisch nachvollziehbar macht. Navid Kermani benennt den Unterschied mit wenigen Worten: „Er stirbt wie ein Mensch: ratlos, einsam, überrascht“ (Kermani 2015, S. 124).
Wie die Bekehrung des Paulus ist die Kreuzigung Petri eine von Caravaggio angefertigte zweite Fassung für die Cerasi-Kapelle – das ursprüngliche Gemälde ist jedoch, anders als die erste Version der Bekehrung, verschollen. Heather Nolin konnte, wenn auch ohne historische Belege, in einer schlüssigen Argumentation dargelegen, dass die erste Fassung der Kreuzigung nicht von den Auftraggebern abgelehnt wurde, sondern Caravaggio wahrscheinlich selbst entschieden hat, dieses Bild neu anzufertigen: [Caravaggio] realized he had to redo the already accepted Crucifixion of St. Peter on panel to match the second Pauls canvas support, reoriented composition, sunless background and dramatic foreshortening. He made this decision so that the viewer would see two harmonious, similary lit scenes with corresponding diagonal compositions in which the main action receded from the viewer and continued into darkness beyond the outer edges of the altar“ (Nolin 2008, S. 60).

Literaturhinweise 
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Friedlaender, Walter: The “Crucifixion of St. Peter”: Caravaggio and Reni. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 8 (1945), S. 152-160;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (2. Auflage);
Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 123-127;
Jansson, Peter: Some reflections on Caravaggio’s Religious Art Based on The Conversion of St Paul and The Crucifixion of St Peter. In: Maj-Britt Andersson (Hrsg.), New Caravaggio. Papers presented at the international conferences in Uppsala and Rome 2013. Edizioni Polistampa, Florenz 2013; 
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 274-275; 
Lechner, Sonja: NUDA VERITAS – Caravaggio als Aktmaler. Rezeption und Revision von Aktdarstellungen in der römischen Reifezeit. scaneg Verlag, München 2006, S. 152-165;
Nolin, Heather: “Non piacquero al Padrone”: A Reexamination of Caravaggio’s Cerasi Crucifixion of St. Peter. In: Rutgers Art Review 24 (2008), S. 41-71;
Wimböck, Gabriele: Wie ein Dieb in der Nacht. Künstlerkonkurrenz und Innovationsdruck um 1600. In: Ulrich Pfisterer/Gabriele Wimböck (Hrsg.), „Novità“. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600. diaphanes, Zürich 2011, S. 489-517;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 11. November 2020)