Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ihnen gehört das Himmelreich – Emil Noldes „Christus und die Kinder“


Emil Nolde: Christus und die Kinder (1910); New York, The Museum of Modern Art
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Grimmige, kantige Fratzen, ungeschlachte, eckige Gestalten, Masken mit spitzen Bärten und Hakennasen in grellen Gelb- und glühenden Rottönen, drastisch charakterisierte Figuren und eine geradezu dramatische Farbwahl: Mit seiner kontrastreichen, leuchtenden Farbigkeit und einer „primitiv“ erscheinenden Formensprache erneuerte der Maler Emil Nolde (1867–1956) am Beginn des 20. Jahrhunderts die religiöse Malerei – und stieß dabei gerade in kirchlichen Kreisen auf erbitterte Ablehnung. Nolde zeigte nicht mehr den süßlich-glatten Jesus der Nazarener, idealschön und makellos, erhaben und edel, wie ihn etwa Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) oder Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) gestaltet hatten. In seinen grellbunten Bildern verzichtete er auf jedes historische Milieu, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, ebenso auf dekorative Einzelheiten und realistische Details. Nolde ging es darum, Gefühle sichtbar zu machen – mittels der spannungsreich eingesetzten und intensiven Farbe bannt er Emotionen unmittelbar auf die Leinwand und lässt die Figuren auf diese Weise ihr Inneres preisgeben.
Johann Friedrich Overbeck: Der Ostermorgen (um 1818);
Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast
Emil Nolde wurde 1867 als Emil Hansen im deutsch-dänischen Grenzgebiet geboren. Später nannte er sich nach seinem gleichnamigen Geburtsort. Zu seiner glühend-expressionistischen Malweise kam er erst 1909, als über 40-Jähriger – mit drei biblischen Bildern, dem Abendmahl, der Verspottung Christi und dem Schlüsselwerk Pfingsten: Dicht um einen Tisch gedrängt, schließt die Gemeinschaft der Jünger einen Kreis. Ihre starren, teils ekstatisch-entrückt in die Ferne blickenden, teils in sich gekehrten Augen verweigern den Blickkontakt mit dem Betrachter. Ein inneres Erlebnis wird hier dargestellt, ohne jedes schmückende Beiwerk – das tiefe Ergriffensein vom Heiligen Geist.
Emil Nolde: Pfingsten (1909); Berlin, Nationalgalerie
Emil Nolde: Abendmahl (1909; Kopenhagen, Statens Museum for Kunst

Emil Nolde: Verspottung Christi (1909); Berlin, Brücke-Museum
In dem Gemälde Christus und die Kinder von 1910 verbildlicht Nolde eine Szene, die das Matthäus-Evangelium in Kapitel 19,13-15 schildert (LUT): „Da wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er die Hände auf sie legte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Aber Jesus sprach: Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich. Und er legte die Hände auf sie und zog von dort weiter.“
Christus steht, die ganze Bildhöhe einnehmend, als große Rückenfigur leicht links von der Mitte und blickt nach rechts. Da wir ein Bild gewöhnlich von links nach rechts lesen, scheint sich Jesus aktiv den Kindern zuzuwenden. Dieser Eindruck wird durch seinen gebeugten Rücken noch verstärkt. Christus neigt sich zu einem Kind herab und ist dabei, es auf seinen Arm zu nehmen. Die Kinderschar, ein buntes Durcheinander kleiner Wuschelköpfe, drängt von rechts an ihn heran. Die Kleinen schreien begeistert und fuchteln mit ihren Ärmchen. Jedes Kind möchte von ihm hochgehoben werden. „Die Bewegung und Energie, die in den Kindern steckt, kommt besonders in der Farbgebung zum Ausdruck, im schrillen nebeneinander der Orange- und Rottöne, die durch vereinzelte Grünakzente in ihrer strahlenden Wirkung noch intensiviert sind“ (Stückelberger 2002, S. 234).
Auf der anderen Seite sind die in kaltem Blau gemalten Jünger zu sehen, die missmutig und verständnislos das Geschehen beobachten. Die Farben entsprechen den Gefühlen der jeweiligen Figuren: Den abweisenden Jüngern stellt Nolde die jubelnde Freude der Kinder und das liebevolle Verhalten Jesu gegenüber. Noldes Bild lebt vom Kontrast zwischen der kühlen, eher statischen linken und der warmen, sehr bewegten rechten Seite. Christus ist sowohl kompositionell als auch farblich mehr der linken Seite zuzurechnen. Gleichzeitig übernimmt er jedoch eine Art Brückenfunktion, indem er sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit den Kindern zuwendet und sich mit Oberkörper und Kopf auf ihre Seite neigt. „Statt der Distanz, die die Jünger wahren, sucht er die Begegnung, statt der Polarisierung die Verbindung“ (Stückelberger 2002, S. 235). Dass Noldes Bild so auf uns wirkt, liegt maßgeblich am Gegensatz von dunkler linker und heller rechter Seite. Da helle Farben die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen, schweift unser Blick in diesem Gemälde automatisch nach rechts: Wir folgen mit unseren Augen der Bewegung Christi.
Johannes Stückelberger verweist darauf, dass die Gestalt Jesu in Noldes Bild derjenigen in Rembrandts Radierung Auferweckung des Lazarus (um 1632) sehr ähnlich sei. Rembrandt gehört zu den Größen unter den alten Meistern, mit denen sich Nolde identifizierte und deren Werke für ihn immer wieder zur Inspirationsquelle wurden. Wie bei Christus und die Kinder ist Jesus in Rembrandts Radierung von hinten zu sehen und dominiert die Szene. Der Betrachter befindet sich mit Christus in einem höhlenartigen Innenraum und blickt in Richtung Ausgang. Der Vordergrund und der Rücken Jesu liegen im Dunklen, die rechte Bildhälfte wird dagegen vom Licht erhellt.
Rembrandt van Rijn: Auferweckung des Lazarus (um 1632); Radierung
Es existiert eine von Nolde zusammengestellte Liste, die mit „Meine biblischen und Legendenbilder“ überschrieben ist und Gemälde aus den Jahren 1909 bis 1951 aufführt. Auf drei Seiten eines gefalteten Blattes hat der Künstler die Titel dieser Werke in chronologischer Reihenfolge vermerkt – es sind insgesamt 55. Diese Zahl wie auch das Verzeichnis selbst belegen das außergewöhnliche Interesse Noldes an diesem Themenbereich.
Es ist leicht, von Emil Noldes Bildern begeistert zu sein. Aber gesagt werden muss auch: Nolde war ein strammer Antisemit, der sich glühend zu seinem „Führer“ bekannte. Das zeigen neu aufgefundene Dokumente sehr deutlich (siehe DIE ZEIT vom 21.10.2013; http://www.zeit.de/2013/42/emil-nolde-nationalsozialismus).Was einmal mehr belegt: Ein großer Maler zu sein heißt nicht, auch ein großer Mensch zu sein.

Literaturhinweise
Hamburger Kunsthalle (Hrsg.): Emil Nolde. Legende, Vision, Ekstase. Die religiösen Bilder. DuMont Buchverlag, Köln 2000;
Jüngling, Kirsten: Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten. Biographie. Propyläen, Berlin 2013;
Stückelberger, Johannes: „Rembrandt war es, den wir suchten“ – Nolde im Dialog mit den alten Meistern. In: Nolde im Dialog 1905-1913. Quellen und Beiträge. Hirmer Verlag, München 2002, S. 226-241;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 7. Mai 2020)

Montag, 2. Dezember 2013

Reiche deinen Finger her! – Verrocchios Christus-Thomas-Gruppe in Florenz


Andrea del Verrocchio: Der ungläubige Thomas (um 1470-79); Florenz, Orsanmichele
Der ungläubige Thomas gilt als das bedeutendste Werk Andrea del Verrocchios (1435–1488). Geschaffen hatte es der Renaissance-Künstler im Auftrag der Mercanzia, des Florentiner Handelsgerichts, für eines der Fassadentabernakel der Kirche Orsanmichele. Schutzpatron der Mercanzia war der Apostel Thomas; die Prüfung der Wundmale Christi durch dessen Hand galt als Sinnbild für die Wahrheitsliebe der Justiz und damit auch des Handelsgerichts. Der Auftrag für die Bronzegruppe erging 1466, aufgestellt wurde sie 1483. Die Nische war ursprünglich für eine Einzelfigur vorgesehen; dass Verrocchio hier nun den Zunftpatron zusammen mit Christus in einer szenischen Gruppierung darstellte, war ein Novum. Darüber hinaus zeigt er den Apostel Thomas nicht in repräsentativer Frontalität in der Mitte des Tabernakels, sondern mehr oder weniger als Nebenfigur, die sich überdies nur in der Seitenansicht präsentiert.
Hauptblickfang ist der auf einer Sockelplatte erhöht und in leichtem Kontrapost stehende Christus im Innern der Nische. Thomas tritt von links außen an ihn heran und dreht sich nach rechts um die eigene Körperachse in das Tabernakel hinein, mit Blick und Gebärde auf Christus gerichtet. Es ist vor allem der plastische Faltenwurf des Obergewandes, der das Volumen eines nach innen sich drehenden Körpers fingiert; der Umhang scheint zu einer dichten, sich bauschenden Stoffmasse um den Unterleib gerafft, in deren Furchen die Finger der linken Hand greifen. Der Oberkörper schließlich ist ganz ins Profil gedreht, der Kopf gar ins Innere der Nische hin zu Christus, der sein Haupt dem Apostel zuneigt.
Thomas steht „in überdehntem Kontrapost“ (Wolf 2002, S. 285) noch weitgehend außerhalb der Nische; die Zehenspitzen des rechten Fußes ragen sichtbar über den vorderen Rand des Nischenbodens hinaus, der linke Fuß dagegen ist parallel zu ihm gestellt. Wir haben es hier mit einer „Verschleifung der Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum“ (Wundram 1996, S. 76) zu tun, wie sie sich im 16. Jahrhundert vielfach bei Malern und Bildhauern beobachten lässt: Thomas gehört dem Bereich des vor der Nische stehenden Betrachters an; Christus dagegen ist in den von der Architektur gebildeten Raum eingebunden. Thomas wendet sich Christus zu, überschreitet den Nischenrahmen „und zieht dabei, durch seine starke Körperdrehung und das betonte Nachziehen des rechten Fußes, den Betrachter ausdrücklich an das Geschehen heran“ (Poeschke 1990, S. 188). Damit sehen wir uns nicht zwei Statuen gegenüber, es entsteht vielmehr der Eindruck einer sich spontan vollziehenden Handlung.
Nanni di Banco: Quattro Coronati (um 1413-16); Florenz, Orsanmichele
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Wie ungewöhnlich diese Lösung ist, zeigt der Vergleich mit der einzigen anderen Nische an Orsanmichele, die mehrere Figuren umschließt: die Quattro Coronati, die vier Schutzheiligen der Steinmetzzunft, die Nanni di Banco vermutlich um 1413-16 geschaffen hatte. Er ordnete die Statuen in einem Halbkreis an, ohne die Grenzen des von der Architektur vorgegebenen Rahmens zu überschreiten. Durch Kopfwendungen und zurückhaltende Gesten miteinander verbunden, stehen die Figuren ruhig beisammen.
Die überaus reiche Faltenführung bei beiden Skulpturen ist ein echter Hingucker
Der Bewegtheit der Figuren bei Verrocchio korrespondiert mit ihrem äußeren Erscheinungsbild: Christus und Thomas sind in stoffreiche Gewänder gehüllt, die sich durch sorgsam ausgeführte Faltenarrangements auszeichnen. Den vielfachen Richtungswechseln in der Faltenführung „entspricht der Kontrast von Faltenstegen und Einmuldungen, der ein lebhaftes Spiel von Licht und Schatten bewirkt“ (Wundram 1996, S. 76). Der Mantel Christi, unter dem er ein hemdartiges Untergewand trägt, ist großflächiger modelliert; bei Thomas dagegen bleibt die Faltenbildung kleinteiliger, die Fülle des raschen Richtungswechsels wird dadurch gesteigert. Der dicke Stoff seines Gewandes „schmiegt sich enger an die Glieder und betont deren Bewegung: Besonders herausgearbeitet ist die runde Form der Schulter, die Zeigerichtung des Arms wird in den Schlaufen der um den Körper gezogenen Manteldraperie aufgenommen, die alle unter diesem Arm zusammenlaufen, und das zurückgestellte Bein und seine Gelenkstellen zeichnen sich deutlich durch den Stoff hindurch ab“ (Windt 2003, S. 119).
Verrocchio nutzt die Umhänge der beiden Figuren und die Faltenbildung auch dazu, um die Statuen harmonisch zusammenzubinden, wie Paul Butterfield betont: „The line formed by fall of the bottom of Thomas’s mantle extends up the right silhouette of the figure. This line is repeated in the line of drapery that runs from Christs right foot to his left shoulder. The forms of the two major folds in the robe across Thomass waist und thigh are mirrored in the corresponding areas of Christs mantle. The large piece of drapery that hangs along the small of Thomass back, and the fold of cloth that breaks below his right knee are also repeated in the fall of Christs mantle as it descends from his left arm and across his left knee“ (Butterfield 1997, S. 73).
Die Haartracht Christi scheitelt sich in der Mitte des Kopfes zu flachen, dünnen Strähnen, die die Stirn in ganzer Breite freigeben. Ungefähr in Höhe der Augen beginnen sie sich einzurollen, um sich in üppiger Lockenpracht über seine Schultern zu ergießen; Haare und zierlich ondulierter Bart geben dem Haupt Christi ein idealschönes, „geradezu nazarenisches Gepräge“ (Poeschke 1990, S. 188).
Nicht vollrund, sondern im Hochrelief geschaffen
Verrocchios Statuen sind nicht vollrund, sondern im Hochrelief geschaffen, d. h., ihnen fehlt die Rückseite. Die so eingesparte Bronze bedeutete eine erhebliche Kostenersparnis. Die beiden Figuren wurden im Wachsausschmelzverfahren hergestellt, einer Technik, die schon von Lorenzo Ghiberti (1378–1455) und Donatello (1386–1466) nach antiken Vorbildern wiederbelebt und modernisiert worden war. Christus, dessen Haupt bis in die Gebälkzone ragt, ist 30 cm höher als der Apostel und entspricht mit 230 cm anderen, zuvor an Orsanmichele aufgestellten Skulpturen, etwa dem Markus Donatellos oder dem Stephanus von Lorenzo Ghiberti. Die Figur breitet sich vorrangig in der Fläche aus und nimmt etwa die Breite von zwei der drei die Nischenrundung bildenden Marmorfeldern ein, während der heraustretende Thomas nur einem dieser Felder zugeordnet ist. Die Konturen beider Figuren bleiben weitgehend unüberschnitten, sodass zu dem Eindruck des Hintereinander der eines Nebeneinander tritt.
Trotz ihrer Bewegtheit ist die Gruppe dennoch von Harmonie und Ausgewogenheit bestimmt. Verrocchio nutzt dazu vor allem die Nischenarchitektur: Von der Basis des linken Pilasters verläuft über den rechten Fuß von Thomas und dessen rechtes Bein eine Diagonale zum Kapitell des rechten Pilasters; im Schnittpunkt dieser und der entgegengesetzten Diagonalen und zudem in der Mittelachse hat Verrocchio die Seitenwunde Christi positioniert, der sich Thomas behutsam und doch zielgerichtet nähert. Sie bildet das Zentrum der Nische und der Komposition insgesamt: Even the ribs in the conch shell above direct the eye of the viewer down to the figures and their point of concentration and contact, Christs wound“ (Butterfield 1997, S. 73). 
Donatello: Markus (um 1411-16); Florenz, Orsanmichele
Lorenzo Ghiberti: Stephanus (um 1419-22); Florenz, Orsanmichele
Auf den reich verzierten Mantelsäumen der beiden Skulpturen sind in vergoldeten Lettern Bibelworte aus dem Johannes-Evangelium eingraviert; bei Christus „Quia vidisti me Thoma credidisti beati qui non viderunt et crederunt“ (Johannes 20,29), bei Thomas „Dominus meus et Deus meus“ (Johannes 20,28) sowie das unbiblische „Et Salvator gentium“. Dieser Zusatz, der sich im zeitgenössischen Verständnis von gentes sowohl auf Heiden wie auf Völker beziehen kann, mag auf den Missionsauftrag verweisen, da Thomas als der Apostel Indiens galt. 
Bemerkenswert ist, dass – im Gegensatz zu früheren Darstellungen des Themas – Thomas seine Finger nicht in die klaffende Seitenwunde Christi mit ihrer „veristischen Fleischlichkeit“ (Zöllner 1996, S. 138) legt: Es bleibt offen, ob er sie bereits berührt hat oder noch berühren wird. Es ist allerdings auch dem biblischen Text nicht eindeutig zu entnehmen, ob die von Thomas erbetene und von Christus ausdrücklich zugelassene Berührung tatsächlich stattgefunden hat. Mit einer kraftvollen Geste hat Christus einen Schlitz in seinem Gewand mandelförmig geöffnet, um Thomas die unter der rechten Brust liegende Seitenwunde darzubieten. Sie wird durch diese Mandorla „nicht nur gerahmt, sondern auch vergrößert zitiert“ (Schreier 1988, S. 138). Hier konvergieren, so Gerhard Wolf, die erotische und die heilsgeschichtliche Dimension der Begegnung in Verrocchios Werk“ (Wolf 2002, S. 286). Den rechten Arm hat Christus erhoben; seine Hand hält wie in einem Segensgestus über dem Haupt von Thomas inne – und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Betrachters wieder zurück auf den Schutzpatron der Mercanzia, dem die Nische gewidmet ist.
Veristische Fleischlichkeit und haptische Zurückhaltung
Dafür, dass Verrocchios Thomas die Seitenwunde nicht anfasst, spricht seine Körperhaltung, „in der letztlich das Zaudern überwiegt“ (Zöllner 1996, S. 136). Er möchte seinen Herrn zwar berühren, doch die linke Schulter setze diesem Verlangen eine deutliche Grenze, so Frank Zöllner, „und auch der hieraus folgende Bogen des kräftig ummantelten linken Armes wirkt wie eine vertikale Barriere gegenüber Christus“ (Zöllner 1996, S. 136). Die linke Hand schließlich fasst das Gewand, sodass sich ein Kreisbogensegment ergibt, über das die zu Christus strebende Rechte kaum hinausgelangt. Diese gestische Zurückhaltung wird vor allem dann sichtbar, wenn der Betrachter nicht genau vor Christus steht, sondern einen Platz rechts von der Szene einnimmt.
Donatello: Verkündigung (um 1435); Florenz, Santa Croce
Als wichtige Anregung für Verrcocchios Zweiergruppe gilt Donatellos Verkündigung aus der Cavalcanti-Kapelle in der Florentiner Kirche Santa Croce, die um 1435 entstanden sein dürfte: Maria und der Engel sind ebenfalls beinahe lebensgroß in einer Nische platziert und als Hochreliefs gestaltet. Laurie Taylor-Mitchell hat darüber hinaus auf eine mögliche Quelle für die Figur des Thomas hingewiesen: einen marmornen Verkündigungsengel aus dem späten Tre- oder dem frühen Quattrocento, der sich heute im Museo dellOpera del Duomo in Florenz befindet und inzwischen Giovanni dAmbrogio zugeschrieben wird. Die Pose der beiden Statuen sowie einige Teile ihrer Gewänder ähnlich sich tatsächlich verbüffend: „In both figures, the weight is clearly shifted to the left of the body, with the right leg and hip turned strongly outward and away from the torso (...) Moreover, the drapery is pulled taut over the right knee and thigh to emphasize the line of the leg moving away from the upper part of the figure. The graceful motion of the leg and hip to the left is set against the turn of the upper torso to the right“ (Taylor-Mitchell 1994, S. 604).
Giovanni dAmbrogio: Verkündigungsengel (um 1400)
Florenz, Museo dellOpera del Duomo
Andrea del Verrocchio war einer der einflussreichsten italienischen Bildhauer zwischen Donatello und Michelangelo. Er gehörte zu den bevorzugten Künstlern der Medici-Familie, in deren Auftrag er fast ausschließlich arbeitete. Nicht zu unterschätzen ist auch Verrocchios Einfluss als Lehrer so berühmter Renaissance-Maler wie Leonardo da Vinci, Sandro Botticelli, Domenico Ghirlandaio und Pietro Perugino. Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehört neben der Christus-Thomas-Gruppe sein Bronze-David (siehe meinen Post „Stolz und spöttisch“) und das Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni in Venedig.

Literaturhinweise
Butterfield, Andrew: Verrocchios Christ and St. Thomas: chronology, iconography and political context. In: The Burlington Magazine 134 (1992), S. 225-233;
Butterfield, Andrew: The Sculptures of Andrea del Verrocchio. Yale University Press, New Haven/London 1997, S. 57-80;
Passavant, Günter: Verrocchio. Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen. Phaidon Press, London 1969, S. 21-24;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 1: Donatello und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1990;
Schreier, Christoph: J.L. Epiphanie als Plastik. Die Thomasgruppe des Andrea del Verrocchio. In: Daniel Hees/Gundolf Winter (Hrsg.), Kreativität und Werkerfahrung. Festschrift für Ilse Krahl zum 65. Geburtstag. Gilles & Francke Verlag, Duisburg 1988, S. 129-143;
Taylor-Mitchell, Laurie: A Florentine Source for Verrocchios Figure of St. Thomas at Orsanmichele. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 600-609;
Windt, Franziska: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci. Zusammenarbeit in Skulptur und Malerei. Rhema-Verlag, Münster 2003, S. 114-126;
Wolf, Gerhard: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. Wilhelm Fink Verlag, Göttingen 2002, S. 279-304;
Wundram, Manfred: Die Christus-Thomas-Gruppe. Stil und Komposition. In: Herbert Beck u.a. (Hrsg.), Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio. Henrich Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 75-80;
Zöllner, Frank: Andrea del Verrcocchios „Christus und Thomas“ und das Dekorum des Körper. Zur Angemessenheit in der bildenden Kunst des Quattrocento. In: Herbert Beck u.a. (Hrsg.), Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio. Henrich Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 129-141.

(zuletzt bearbeitet am 28. Juli 2023)

Montag, 25. November 2013

La Gioconda – Leonardo da Vincis „Mona Lisa“

Leonardo da Vinci: Mona Lisa (1503-1506); Paris, Louvre
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Wir sehen das Dreiviertelporträt einer jungen, etwa 25-jährigen Frau, die vor einer Brüstung auf einem hölzernen Möbel sitzt, auf dessen bildparallel verlaufende Armlehne sie beide Hände stützt, Gesicht und Blick dem Betrachter zugewandt. Den Vordergrund dominieren die aufeinander gelegten Hände, den Mittelgrund des Bildes füllen Oberkörper und Kopf der Porträtierten, im Hintergrund sind wild zerklüftete Gebirgszüge zu sehen, die sich in der Ferne eines grün-braunen Himmels zu verlieren scheinen. Die Hintergrundlandschaft ist extrem karg; sie lässt auf der linken Seite einen in dunstumwitterten Felsformationen verschwindenden Weg erkennen und auf der rechten Seite einen ausgetrocknet anmutenden Flusslauf. In welcher Verbindung er mit einem weiter oben gelegenen Wasserreservoir steht, wird nicht ganz klar. Die einzelnen Elemente der vegetationslosen Landschaft geben keine eindeutigen Hinweise auf Zeit, Ort und Bedeutung des Dargestellten, und auch die den Flusslauf überquerende Brücke bleibt rätselhaft. Wenn hier eine Realität abgebildet ist, dann befindet sie sich weit ab von den Zentren menschlichen Lebens.
Die porträtierte Frau verdankt ihre Berühmtheit ja vor allem ihrem Lächeln – dazu später mehr. Ein hauchdünner Schleier bedeckt ihr leicht gelocktes, frei fallendes, kastanienbraunes Haar; ihr dunkles Gewand weist vor allem unterhalb des Brustausschnitts zahlreiche, nach geometrischen Mustern entworfene Stickereien und senkrechte Fältchen auf. Demgegenüber lassen die gröberen Falten der senffarbenen Ärmel auf einen etwas schwereren Stoff schließen. Die weichen, beinahe wächsern wirkenden Hände ruhen auf einer hölzernen Lehne, die mehrfach, aber schlicht profiliert ist und von dünnen Balustern gestützt wird.
Leonardos weltbekanntes Porträt ist weder signiert noch datiert. Traditionell wird die Mona Lisa als Bildnis der Lisa del Giocondo identifiziert. Der Universalkünstler hat wahrscheinlich zwischen 1503 und 1506 daran gearbeitet, das unvollendete Gemälde aber nicht an den Besteller, Francesco del Giocondo, übergeben, sondern bei sich behalten. Francesco del Giocondo entstammte einer recht wohlhabenden Florentiner Familie von Seidenhändlern. Er wurde 1460 geboren und war damit etwa 19 Jahre älter als seine Frau. Vor der Ehe mit Lisa hatte er bereits im Jahre 1491 und, nach dem Tod der ersten Frau, 1493 ein zweites Mal geheiratet. Seine Verbindung mit Lisa im April 1495 war in finanzieller Hinsicht eine eher bescheidene Angelegenheit, denn die Familie seiner Braut brachte nur eine vergleichsweise niedrige Mitgift auf. Bedenkt man die Bedeutung, die einer ansehnlichen Mitgift damals in Florenz beigemessen wurde, dann könnte man sogar vermuten, dass Francesco seine dritte Frau Lisa aus Zuneigung geheiratet hatte und eben diese Zuneigung ein ausschlaggebender Faktor für die Bestellung des Porträts war.
Leonardo zeigt Lisa ohne Schmuck, und sie trägt Kleidung aus zurückhaltend dunklem Stoff. Dennoch deuten die Samtärmel und die Stickereien des aus Seide gewobenen Oberkleides unübersehbar an, dass es sich nicht um die Frau eines armen Mannes handelt. Besticktes Tuch zählte damals zu den kostbarsten Stoffen überhaupt, und „man mag sogar in der Zurschaustellung kostbarer Stoffe einen Hinweis auf den Beruf von Francesco del Giocondo sehen, der als Seidenhändler an einer Darstellung teuren Schmucks nicht sonderlich interessiert gewesen sein konnte“ (Zöllner 1994, S. 56).
Frank Zöllner vermutet, dass es konkrete Ereignisse in der Familiengeschichte gewesen sein könnten, die zu diesem Porträtauftrag führten. Am 12. Dezember 1502 nämlich hatte Lisas zweiter Sohn Andrea ohne folgenschwere Komplikationen das Licht der Welt erblickt. Diese erfreulich verlaufene Geburt muss für die Familie Giocondo eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt haben. Die Kinder- und Kindbettsterblichkeit zu jener Zeit war extrem hoch, und dies dürfte Francesco und Lisa del Giocondo besonders schmerzlich bewusst gewesen sein. Vor seiner Verbindung mit Lisa hatte Francesco bereits zwei Ehefrauen verloren, und zwar jeweils ungefähr ein Jahr nach der Heirat. In einem Fall starb die Gattin sogar kurz nach der Geburt eines Kindes. Diese Todesfälle lassen vermuten, dass die beiden ersten Frauen Francescos direkt im Kindbett oder in den ersten Wochen nach der Niederkunft gestorben waren. Francescos dritte Frau Lisa hatte offenbar die Geburt ihres ersten Sohnes Piero (1496) gut überstanden, doch dann im Jahre 1499 eine Tochter im Kindbett verloren. „Als daher im Frühjahr 1503, etwa vier Monate nach der Geburt von Andrea, Mutter und Kind wohlauf waren, durfte Francesco annehmen, daß beide das freudige Ereignis gut überstehen würden“ (Zöllner 1994, S. 40). Diese Hoffnung war mit großer Wahrscheinlichkeit der Anlass dafür, bei der Ausstattung eines 1503 erworbenen Hauses auch an ein Porträt der Ehefrau zu denken. Im Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts war die Gründung eines neuen Haushalts – neben der Hochzeit natürlich – ein wichtiger Anlass, Einrichtungsgegenstände und Kunstwerke anzuschaffen oder in Auftrag zu geben.
Raffael: Maddalena Doni (1506/07); Florenz, Palazzo Pitti
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Raffael: Junge Frau mit dem Einhorn (um 1506); Rom, Galleria Borghese
Dass die Mona Lisa zwischen 1503 und 1506 entstanden sein muss, verrät Raffaels Porträt der Maddalena Doni, das allgemein auf 1506/07 datiert wird. So hat Raffael, der damals in Florenz arbeitete, die Position der porträtierten Frau, in etwa auch die Haltung der Arme und Hände sowie das recht große Format von Leonardos Bildnis übernommen (siehe meinen Post „Geld heiratet Adel“). Auch die Entscheidung, Maddalena Doni vor einer offenen Landschaft zu zeigen, verweist auf den Bildaufbau der Mona Lisa. Ebenso ist Raffaels Junge Frau mit dem Einhorn (um 1506) offensichtlich von der Porträtkonzeption Leonardos abhängig.
Hans Memling: Madonna, Mitteltafel des Portinari-Triptychons (1487);
Berlin, Gemäldegalerie


Leonardos Mona Lisa wird von zwei angeschnittenen Säulenbasen gerahmt; ursprünglich waren sie als Halbsäulen gedacht. Susanne Kress geht davon aus, dass der Künstler dieses Kompositionsdetail direkt aus Hans Memlings Mitteltafel des Portinari-Triptychons übernommen hat. Zudem greife Leonardo das als „Thronen“ zu bezeichnende Sitzmotiv vom Memlings Madonna auf, sodass sich der Oberkörper relativ hoch über der Hintergrundlandschaft entfalten kann. Leonardo zeige die Porträtierte darüber hinaus – ähnlich wie Memling – mit ihrem ganzen Oberkörper, d. h. bis zur Taille und mit beiden Armen, die nicht vom Bildrand beschnitten werden. Allerdings hat Leonardos karge Hintergrundlandschaft nur wenig gemein mit dem Landschaftsausblick auf Memlings Tafel, deren Panorama sich durch zahlreiche Details deutlich als vom Menschen kultiviert zeigt. Kress verweist noch auf einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen den beiden Gemälden: „Während bei Memling Innen und Außen, Figur und Landschaft klar getrennt werden, hebt Leonardo diese Trennung durch seine rein von Licht und Schatten bestimmte Farbigkeit auf, durch die sich die Lokalfarben zugunsten eines einheitlichen und bildbestimmenden Brauntons aufzulösen scheinen“ (Kress 1999, S. 228).
Ziemlich viele Leute fotografieren die berühmteste Frau der Welt
Was hat es nun aber mit diesem Lächeln auf sich, das alle Welt über die Maßen zu entzücken scheint? Denn wahrlich, Leonardos Gemälde ist im Louvre von morgens bis abends von einer schier undurchdringlichen Menschentraube umgeben. Frank Zöllner verweist darauf, dass es sich dabei um einen zeitgenössischen Topos weiblichen Liebreizes handele (Zöllner 2007, S. 134). In den heiter und dezent lächelnden Gesichtszügen spiegele sich nach damaliger Auffassung die Schönheit einer Frau und damit ihre Tugend. Schönheit wird damit zum Ausdruck eines tugendhaften Charakters.
Leonardo da Vinci, 1452 als uneheliches Kind geboren, doch von seinem Vater adoptiert, wuchs in Florenz auf und erhielt eine Ausbildung bei Andrea del Verrocchio (1435–1488), einem der führenden Künstler der damaligen Metropole. Die Mona Lisa malte Leonardo als reifer Mann, nachdem er nach langjährigem Dienst am Hof der Mailänder Fürstenfamilie Sforza im April 1500 nach Florenz zurückgekehrt war. Ohne feste Anstellung, beschäftigte er sich in dieser Zeit mit wechselnden Auftragsarbeiten. Die Mona Lisa zählt zu jenen drei Gemälden, die Leonardo 1517 auf dem Weg zu seinem letzten und großzügigsten Auftraggeber mit sich führte, zu Franz I., dem zwei Jahre zuvor gekrönten französischen König. Die beiden anderen Werke waren ein Johannes der Täufer sowie eine Anna selbdritt, also die Darstellung Mariens mit ihrer Mutter Anna und dem Jesuskind. So erklärt sich, warum alle drei Bilder heute im Louvre aufbewahrt werden: Franz I. erwarb sie nach Leonardos Tod von dessen als Erben eingesetzten Lieblingsschüler Salai.
Leonrado da Vinci: Johannes der Täufer (um 1513-1516); Paris Louvre
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Leonrado da Vinci: Anna selbdritt (m 151-1513); Paris, Louvre
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Im Louvre hing die Mona Lisa ab 1804, damals als Musée Napoléon die Sammelstätte für die von den napoleonischen Truppen in ganz Europa beschlagnahmten Kulturgüter. Die französische Eigentümerschaft an der Mona Lisa stand allerdings nie in Frage. Doch wurde das Gemälde zunächst nur als Porträt gesehen und repräsentierte damit eine niedere Kunstgattung. Zudem musste es seine Popularität mit zahlreichen weiteren Werken der Renaissance teilen. Das änderte sich erst, als die Literaten auf den Plan traten. Der Spätromantiker Théophile Gautier (1811–1872) begründete um 1850 quasi aus dem Nichts die neue „Giocondolatrie“, die „unzählige Liebhaber“ vor das Antlitz der „göttlichen Mona Lisa“ zog –  und ihr Liebeswerben von dem spöttischen Lächeln „seit 300 Jahren“ abgewiesen fühlten.
Gautier fand bald darauf einen Leser und Nachfolger in dem jungen Engländer Walter Pater (1839–1894), der den Ästhetizismus aus der Taufe hob. Er nannte Leonardos Bildnis den „Ausdruck dessen, wonach die Männer während tausend Jahren sich zu sehnen gelernt hatten“. Sigmund Freud (1856–1939), ein Leser Paters, war ebenfalls so fasziniert von der Mona Lisa, das sie seine Phantasie mächtig beflügelte: In seiner Studie „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910) vermutet er in dem Gemälde eine verdeckte Selbstdarstellung des Meisters.
Zu breitester Popularität gelangte die Mona Lisa aber erst ein Jahr nach Freuds Veröffentlichung, und zwar durch ihren Verlust: Am 21. August 1911 nahm der 29-jährige Italiener Vincenzo Peruggia die Mona Lisa von der Wand, wo sie dicht an dicht zwischen zwei anderen Gemälden gehangen hatte. Erst am nächsten Tag fiel das Fehlen des Gemäldes auf. Dann aber brach in der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung los. Wochenlang beherrschte der Diebstahl die Schlagzeilen. Der Louvre blieb eine volle Woche lang geschlossen, sein Direktor wurde gefeuert – das Museum unterstand damals wie heute der französischen Regierung. Die „Mona Lisa“ wurde in dieser Hoch-Zeit des Nationalismus als unverzichtbarer Teil des französischen Kulturerbes betrachtet. In diesem Denkschema war auch der Dieb befangen, ein in Paris beschäftigter Anstreicher. Er habe, wie er nach seiner Festnahme erklärte, das Gemälde nach Italien „heimbringen“ wollen. Erst zwei Jahre nach dem unaufgeklärt gebliebenen Diebstahl hatte er es einem Florentiner Kunsthändler angeboten, der zum Schein darauf einging und so die Festnahme Peruggias ermöglichte. In der italienischen Öffentlichkeit wurde jedoch verlangt, das Gemälde in Italien zu belassen. Die Zusicherung der italienischen Regierung, das Werk an den zweifelsfreien Eigentümer, den französischen Staat, zurückzugeben, führte beinahe zur politischen Krise. Immerhin wurde das Bild zunächst in Italien auf Tournee geschickt, ehe es, eskortiert wie ein Staatsgast, nach Paris zurückkehrte und ab 1914 wieder im Louvre hing. Das damalige Presseecho war international und verankerte die Mona Lisa als Kunst-Ikone im visuellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts.

Literaturhinweise
Arasse, Daniel: Meine Begegnungen mit leonrado, raffael & co. DuMOnt Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, S. 19-26;
Greenstein, Jack M.: Leonardo, Mona Lisa and La Giaconda. Reviewing the Evidence. In: artibus et historiae 50 (2004), S. 17-38;
Kress, Susanne: Memlings Triptychon des Benedetto Portinariund Leonardos Mona Lisa. Zur Entwicklung des weiblichen Dreiviertelporträts im Florentiner Quattrocento. In: Christiane Kruse/Felix Thürlemann (Hrsg.), Porträt – Landschaft – Interieur. Jan van Eycks Rolin-Madonna im ästhetischen Kontext. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1999, S. 219-235;
Perrig, Alexander: Leonardo: die Anatomie der Erde. In: Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 25 (1980), S. 51-80;
Probst, Veit: Zur Entstehungsgeschichte der Mona Lisa. Leonardo da Vinci trifft Niccolo Machiavelli und Agostino Vespucci. Regionalkultur Verlag, Heidelberg 2008; 
Smith, Webster: Observations in the Mona Lisa Landscape. In: The Art Bulletin 67 (1985), S. 183-199;
Zapperi, Roberto: Abschied von Mona Lisa. Das berühmteste Gemälde der Welt wird enträtselt. Verlag C.H. Beck, München 2010;
Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci. Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1994;
Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci 1452–1519. Gemälde, Zeichnungen und Skizzen. Taschen Verlag, Köln 2007.

(zuletzt bearbeitet am 12. November 2022)

Dienstag, 29. Oktober 2013

Trauer und Erhebung – Sandro Botticellis „Beweinung Christi“ (Mailand)


Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495/96); Mailand, Museum
Poldi Pezzoli (für die Großansicht einfach anklicken)
Wie von den seitlichen Bildrändern zusammengeschoben, bilden in dieser Beweinung Christi von Sandro Botticelli (1445–1510) insgesamt sieben Personen eine regelrechte Trauerpyramide. Die Beweinung des Leichnams Christi wird in den Evangelien des Neuen Testaments nicht erwähnt. Sie ereignet sich zwischen Kreuzabnahme und Grablegung: Die Passion Jesu hat mit seinem Tod ihr Ende gefunden; der Gedanke an die Auferstehung ist für die Trauernden noch undenkbar fern.
Beweisstücke der Passion: Dornenkrone und Nägel
Eine zu beiden Seiten ausschwingende Wellenlinie durchzieht die Figurenkomposition vom tiefsten bis zum höchsten Punkt, ausgehend vom Zipfel des Leichentuches links unten über den Rücken der Maria Magdalena. Die junge Frau wiederholt, schmerzvoll versunken in die Vergangenheit, die Beweinung der Füße Jesu bei ihrer ersten Begegnung mit ihm (Lukas 7,36-50). Die Kurve setzt sich fort über Oberschenkel, Rumpf und Kopf des toten Christus, biegt hier um und führt über das Profil einer sein Haupt von hinten umfassenden Frau. Es handelt sich wahrscheinlich um Maria Kleophas; die das Johannes-Evangelium als eine der Frauen am Kreuz erwähnt (Johannes 19,25). Das en face wiedergegebene Gesicht der in Ohnmacht erbleichenden Mutter Jesu nimmt die Linie auf und ändert ein letztes Mal ihre Richtung: Sie beschreibt eine weitere S-Kurve, gipfelnd in der Dornenkrone, die ein gelbgewandeter Mann mit seiner rechten Hand emporhält; aus seiner Linken ragen die Nägel des Kreuzes hervor, auch sie nach oben gerichtet. „Als führte sie auf einen Berggipfel, verjüngt sich die über die Figurenwand gleitende Serpentine mit zunehmender Höhe und gewinnt an Vertikalität“ (Dombrowski 2010, S. 351).
Ohnmächtig erbleicht, gestützt von Johannes: die Mutter Jesu
Mit seinem langem Arm versucht der Jünger Johannes, ebenfalls Zeuge der Kreuzigung Jesu (Johannes 19,26-27), den kraftlos herabhängenden Arm der ihm anvertrauten Maria von der Berührung ihres Sohnes zu lösen. In den spitz zulaufenden Ärmelenden ihrer Gewänder klingt die Verbundenheit beider im Schmerz an. Die Vertikale der beiden Arme zieht die Komposition nach unten und steuert so dem Aufwärtsschwung der Serpentine entgegen.
Links neben Johannes verhüllt eine gramgebeugte Frau mit ihrem Gewand das Angesicht – wahrscheinlich ist Maria Salome gemeint; auch sie stand nach dem Markus-Evangelium unter dem Kreuz (Markus 15,40). Das Motiv des verhüllten Gesichts ist aus der antiken Literatur und dem Malereitraktat des Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti („De pictura“, 1435) als ultimatives Mittel zur Darstellung untröstlicher Trauer bekannt: Wenn alle Möglichkeiten der Affektdarstellung erschöpft sind, bleibe als letzte Option, das Haupt des Trauernden zu verhüllen, sodass sich der Betrachter dessen unsagbaren Schmerz selber ausmalen müsse.
Hinter Maria Salome und Maria Kleophas erheben sich die beiden Türpfosten bzw. Seitenwände des Felsengrabes; hinter der Scheitelfigur ist die Profilleiste des Sarkophags sichtbar, in dem Jesus bestattet werden soll. „Die abschüssige Vertikale aus den Armen Johannes’ und Mariens, die beide über das anatomisch zulässige Maß hinaus verlängert wurden, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, und die sanft ondulierende Horizontale aus Rücken und Hinterkopf der Maria Salome, dem Haupt der Jungfrau und dem Rückenkontur der Maria Kleophas teilen die Bildfläche senkrecht und waagerecht nach den Proportionen des Goldenen Schnitts“ (Dombrowski 2010, S. 352).
Der Leib Christi ist jünglingshaft und fast makellos dargestellt, von der Folter und dem Todeskampf am Kreuz sind keine Spuren zu sehen, einzig die Seitenwunde und die durchbohrte linke Hand wurden durch vergleichsweise winzige rote Striche markiert. Kein geschundener, sondern ein jugendlich schöner Körper, der mehr schlafend als tot wirkt, wird dem Betrachter präsentiert. Allgemein wird bei Botticellis Beweinung Christi von einer Entstehungszeit um oder nach 1495 ausgegangen – nur wenige Jahre trennen sein Bild also von Michelangelos römischer Pietà in St. Peter von 1499 (siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“), die von der durchlittenen Marter Jesu ebenfalls nichts erkennen lässt.
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Die zentrale Pietà auf Botticellis Mailänder Beweinung Christi wird von vier Figuren umstellt, die sich allesamt nach vorne beugen und „den Eindruck des Schwerlastenden vermitteln“ (Dombrowski 2010, S. 352). Der Ausrichtung dieser Gruppe ist die Haltung des sich darüber erhebenden Mannes entgegengesetzt, der sich mit dem Oberkörper zurücklehnt, den Kopf in den Nacken lehnt und die Augen zum Himmel hebt, während die Figuren unter ihm die Lider gesenkt haben. Seine Identität ist nicht sicher zu entscheiden. Dass er Dornenkrone und Kreuznägel vorzeigt, könnte ihn eher als Nikodemus ausweisen, der zum traditionellen Personal der Kreuzabnahme gehört. Die Andeutung eines Turbans und seine Position vor dem offenen Grab deuten dagegen auf Joseph von Arimathäa hin: Ihm gehörte das Grab, in das Jesus gelegt wurde, und er war wie Nikodemus ebenfalls an der Grablegung beteiligt. Mit Damian Dombrowski halte ich es für wahrscheinlicher, dass es sich um Joseph von Arimathäa handelt. In Haltung und Kolorit abgesetzt von dem abwärts gerichteten Figurenschirm unter ihm, ragt seine aufblickende Halbfigur in ihrem sonnengelben Gewand einsam vor dem schwarzen Fond der Grabkammer auf.
Joseph von Arimathiäa ist frontal wiedergegeben und hat die Hände fast symmetrisch erhoben. Die beiden Passionswerkzeuge (arma christi), die er emporhält, sollen durch transparente Tücher vor direkter Berührung geschützt werden. „Doch hebt Joseph Krone und Nägel nicht nur in die Höhe wie der Priester die eucharistischen Gaben oder heilige Reliquien, sondern präsentiert sie wie Beweisstücke oder tropaia, ohne daß er sein eigenes Tun vollständig verstünde“ (Dombrowski 2010, S. 353). Sein forschender Gesichtsausdruck hat die Trauer hinter sich gelassen; „es ist, als habe er mit den Passionswerkzeugen gerade noch den Himmel anklagen wolllen, als sich ein Hoffnungsschimmer über den Ausdruck des Nichtverstehens breitet“ (Dombrowksi 2010, S. 354). Das Schlaglicht, das auf die Türlaibung rechts von ihm fällt, deutet dieses „Erleuchtetwerden“ an.
Joseph von Arimathäa war Mitglied des Hohen Rates von Jerusalem und ein geheimer Anhänger Jesu, „der auch auf das Reich Gottes wartete“ (Markus 15,43). Sein Ausschauhalten wird daher zum zentralen Motov des Bildes: Joseph erahnt das weltumspannende Heil, das mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu verknüpft ist. In der Gestalt Josephs wendet sich das Gefangensein im Schmerz über das Verlorene zur Offenheit für das Kommende. Joseph von Arimathäa ist Zielpunkt der aufsteigenden Kompositionslinien und die Schlüsselfigur des ganzen Bildes; „ohne daß Johannes und die trauenden Frauen schon um den Sinn dieses Todes wüßten, wird aus dem Bild des Jammers durch Joseph ein Bild der Erhebung“ (Dombrowski 2010, S. 354).
Tilman Riemenschneider: Beweinung Christi (1525); Maidbronn bei Würzburg, St. Afra
Der Ablauf der Passionsgeschichte scheint in Botticellis Gemälde für diesen Augenblick angehalten worden zu sein; standbildartig sind die Bewegungen der einzelnen Figuren nach Art eines tableau vivant festgehalten und zu Posen geronnen. Damit nähert sich das Bild den plastischen Beweinungsgruppen des Nordens, wie z. B. denen des fast zeitgleich tätigen Tilman Riemenschneider (1460–1531). Die Überschneidung der Figuren durch die Rahmenränder, der dicht mit nah gesehenen Personen angefüllte Bildraum und deren geringe räumliche Schichtung bewirken eine Dramatisierung der Kompostion, wie sie auch in Passionsdarstellungen der nordischen Malerei des 15. Jahrhunderts zu finden ist.
Ungewöhnlich erscheint Ulrich Rehm, wie Maria Kleophas mit beiden Händen den Kopf Christi stützt: Ihn erinnert dieses Motiv an das klassische Urbild literarischer Trauer, nämlich an die Beweinung Hektors am Ende der Ilias (XXIV, 719-724). Dort ist es die Gattin Andromache, die das Haupt des toten Helden in den Händen hält. Dann stimmen die Mutter Hekabe und schließlich Helena in die Trauerklage ein, bis König Priamos zur Vorbereitung der Verbrennungszeremonie aufruft.
Bestellt hatte die Beweinung Christi der Buchilluminator Donato di Antonio Cioni, und zwar für einen Altar an einem der Pfeiler von Santa Maria Maggiore in Florenz. Wie bei seiner Sebastian-Tafel aus den 1470er Jahren musste Botticelli die Maße seines Bildes an den Pfeilern der Kirche ausrichten – deshalb das für eine Beweinung ungewöhnliche Hochformat.
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1494/95); München, Alte Pinakothek
Kurz zuvor, um 1494/95, hatte Botticelli für die Florentiner Kirche S. Paolina eine kompositionell und in der Farbwahl sehr ähnliche Beweinung Christi geschaffen – allerdings im Querformat. Sie befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München und ist in einem 2017 erschienenen, ebenso umfangreichen wie empfehlenswerten wissenschaftlichen Band zur Florentiner Malerei des 14. bis 16. Jahrhunderts eingehend untersucht worden.

Literaturhinweise
Dombrowski, Damian: Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als pia philosophia. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010;
Rehm, Ulrich: Botticelli. Der Maler und die Medici. Eine Biographie. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 241-243;
Schumacher, Andreas (Hrsg.): Florentiner Malerei – Alte Pinakothek. Die Gemälde des 14 bis 16. Jahrhunderts. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2017, S. 418-433;
Zöllner, Frank: Sandro Botticelli. Prestel Verlag, München 2009, S. 172 und 255.

(zuletzt bearbeitet am 21. Januar 2022)