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Albrecht Dürer: Tanzendes Bauernpaar (1514); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der tumbe Charakter der beiden
Tänzer ist nicht zu übersehen. Sie sind zwar wahrlich nicht anmutig, aber
sichtbar guter Laune. Das gedrungene Äußere der Frau und das wilde Gehopse tragen
dazu bei, dass sich auch der Betrachter amüsiert. Darüber hinaus sorgt Dürer
auch für eine optische Irritation, wenn Füße und Waden so dargestellt sind,
dass nicht sofort erkennbar ist, welches Bein zu welchem Tänzer gehört. Der
Bildwitz besteht darin, dass der Bauersfrau das linke Bein zu fehlen scheint.
Naturgemäß würde sie dann unweigerlich hinfallen. „Diesen Eindruck steigert der
Künstler dadurch, dass die Bilderzählung mit einer aufwärts führenden Diagonale
anhebt, die im Fuß der Bäuerin ihren Ausgangspunkt nimmt und in ihrem
ausgestreckten linken Arm eine Fortsetzung findet“ (Müller 2011, S. 393).
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Laokoongruppe (1506 wiederentdeckt); Rom, Vatikanische Museen |
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Keiner leidet schöner als der Priester-Vater Laokoon |
Jürgen Müller ist der Ansicht, dass
Dürer mit seinem Tanzenden Bauernpaar
kein geringeres Kunstwerk als die berühmte Laokoongruppe zitiert (1506 in Rom
ausgegraben, siehe meinen Post „Das ultimative antike Meisterwerk“) – und zwar in ironischer Absicht. Dabei hat der Künstler die
Bäuerin in Bezug auf das Vorbild horizontal gespiegelt. Zudem macht er aus dem
muskulösen Priester eine gedrungen-dickliche Frau. Auch der Bauer mit seinem
wild-bewegten Lockenhaar und dem zum Schrei geöffneten Mund bezieht sich auf
die antike Marmorskulptur.
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Albrecht Dürer: Musizierender Dudelsackpfeifer (1514); Kupferstich |
Müller sieht in Dürers Kupferstich
des Musizierenden Dudelsackpfeifers,
ebenfalls 1514 entstanden, das inhaltliche Gegenstück zum Tanzenden Bauernpaar. Beide Stiche sind in ihrer formalen Anlage
insofern vergleichbar, als sie die Figuren auf schmalem, dunklem Vordergrundstreifen
platzieren. Der Hintergrund hingegen bleibt von der Gestaltung ausgespart. So
gewinnen die Figuren die Qualität von Skulpturen. Markant heben sich die
Dürer-Monogramme vor dem weißen Hintergrund ab. Der Dudelsackpfeifer spielt
auf. Entspannt hat er einen Fuß über den anderen gestellt und den Kopf konzentriert
nach rechts geneigt. „Im Gegensatz zum wild tanzenden Paar wirkt er fast ein
wenig melancholisch“ (Müller 2011, S. 389). Auch in der Komposition verhalten
sich die beiden Blätter komplementär: Während das tanzende Paar aus lauter
auseinander strebenden Diagonalen besteht, zeichnet den Stich des
Dudelsackpfeifers die vertikale Grundausrichtung aus.
Auch für den Dudelsackpfeifer
zitiert Dürer, so Müller, ein antikes Vorbild. Anatomisch gesehen, ist der
rechte Fuß des Musikanten, unter dessen Sohle wir blicken können, ziemlich merkwürdig
aufgesetzt. Das rechte Bein insgesamt wirkt seltsam verdreht. Auch die
Schrägstellung des Kopfes mutet angesichts des anstrengenden Dudelsackpfeifens ungewöhnlich
geziert an. Diese Posen werden verständlich, wenn man entdeckt, aus welcher
Quelle sich Dürer bedient: Es ist nämlich keine geringere als der Flöte
spielende Faun des berühmten antiken Bildhauers Praxiteles, der in zahlreichen
Kopien und Varianten überliefert ist.
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Praxiteles: Flöte spielender Faun (um 300 v.Chr.); Paris, Louvre |
Dürer erfindet mit dem Tanzenden Bauernpaar und dem Musizierenden
Dudelsackpfeifer „nichts weniger als ein neues ikonographisches Verfahren:
das inverse Zitat“ (Müller 2011, S. 392). In der tanzenden Bauersfrau die
Verballhornung des Priester-Vaters aus der Laokoongruppe und in dem
Dudelsackpfeifer den Faun des Praxitels zu erkennen, setzt freilich ein ebenso
geschultes wie gebildetes Auge voraus. „Dürer weiß sein Zitat geschickt zu
verbergen und zugleich weist er uns klug darauf hin. Zeigen und Verbergen gehen
im inversen Zitat ineinander über“ (Müller 2011, S. 294). Normalerweise wurde
ein antikes Vorbild verwendet, um eine wichtige Figur besonders hervorzuheben –
ihre „Noblesse“ sollte betont werden. Nicht so Dürer: Er etabliert das Prinzip
der ironischen Verkehrung in der bildenden Kunst, indem er das Gesetz der
Angemessenheit („decorum“) aufhebt, um mittels prominenter Motive Bauernfiguren
zu gestalten. Dabei muss man davon ausgehen, dass sich Dürers ironischer Umgang
mit solchen Inversionen in erster Linie an seine Künstlerkollegen wendet.
„Künstler, besonders solche im Norden, denen Dünkel und Überlegenheitsgefühl ihrer
italienischen Kollegen ein Dorn im Auge waren, werden solche Späße zu schätzen
gewusst haben“ (Müller 2011, S. 397).
Literaturhinweise
Albrecht Dürer: Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche
und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 195-196;
Jürgen Müller: Ein anderer Laokoon. Die Geburt ästhetischer Subversion aus dem Geist der
Reformation. In: Beate Kellner u.a. (Hrsg.), Erzählen und Episteme. Literatur
im 16. Jahrhundert. Walter de Gruyter, Berlin/New York 20111, S. 389-414.
(zuletzt bearbeitet am 18. Januar 2016)
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