Dienstag, 25. Juni 2013

Ausweglose Liebe – Caravaggios „Narziss“


Caravaggio: Narziss (um 1595/97); Rom, Palazzo Barberini
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Dargestellt ist ein junger Mann etwa in Lebensgröße, der vornübergebeugt an einem Wasser kniet und selbstvergessen sein Spiegelbild betrachtet, das im unteren Bildteil sichtbar wird. Es handelt sich um den Knaben Narziss, der sich nach antikem Mythos in sein Spiegelbild verliebt – und an dieser Liebe zugrunde geht (Ovid, Metamorphosen, III, 341-510). Narziss trägt ein zeitgenössisches Gewand: eine leuchtend blaue Hose, ein weißes Hemd und darüber ein in silbrigem Blaugrau schimmerndes samtenes Wams. Sein hellbraunes Haar fällt ihm rechts in die Stirn und gibt links das Ohr frei. Mit der rechten Hand stützt sich der Jüngling am Rand des Ufers ab, während die Linke ins Wasser taucht. Noch scheint Narziss das Wesen der schönen Erscheinung nicht erkannt zu haben; doch das steht kurz bevor, wenn er sie durch die Bewegung seiner linken Hand zerstören wird.
Narziss nimmt die ganze obere Hälfte des Gemäldes ein. Der Ort des Geschehens ist auf eine knappe Andeutung des Ufers und der Wasseroberfläche reduziert. Nicht nur das Antlitz, sondern auch Arme, Schulterpartie und rechtes Knie spiegeln sich im Wasser. Das Thema des Bildes ist die Tragik auswegloser, unerfüllbarer Liebe, die in der Intensität der Zuwendung, der emphatischen Wendung des Kopfes und dem leicht geöffneten Mund“ zum Ausdruck kommt (Schütze 2007, S. 72).
Caravaggio hat bei der Darstellung des griechischen Mythos auf das übliche Beiwerk – Nymphe, Blumen, Hirsch, Hund, Köcher und Pfeile – verzichtet. Sein Bild ist vermutlich zwischen 1595 und 1597 entstanden, als er noch im Palazzo des Kardinals Del Monte lebte. Der Kunsthistoriker Roberto Longhi hatte das Bild in einer Mailänder Privatsammlung entdeckt und 1916 Caravaggio zugeschrieben. Das blieb nicht unbestritten. Erwin Panofsky hielt den Narziss für ein Werk von Orazio Gentileschi, Mina Gregori wiederum wies es Lo Spadarino zu, einem der Nachfolger Caravaggios.
Caravaggio folgt genau Ovids Szenenbeschreibung in den Metamorphosen: die Quelle im tiefen Wald, wohin kein Sonnenstrahl fällt, das Eintauchen der Hand, um den Durst zu löschen, und das Verharren „mit gebanntem Blick wie ein Standbild“. Das Werk ist ohne Vorzeichnung auf die Leinwand gemalt worden. Zahlreiche Pentimenti (Korrekturen, die während des Malprozesses vorgenommen wurden) beweisen, dass es sich um keine Kopie handelt. Der Wasserspiegel war ursprünglich drei Zentimeter höher, jetzt tauchen nur noch die Finger ein. Diese Korrektur ist mit bloßem Auge zu erkennen.
Der am Uferrand kniende Narziss und sein Spiegelbild formen zusammen einen geschlossenen Kreis bzw. ein Rad: Das zirkelartige Rund macht unmittelbar anschaulich, dass Narziss unentrinnbar in seiner Liebesleidenschaft gefangen ist. Figur und Spiegelbild nehmen auf der Leinwand nicht gleich viel Platz ein; das Spiegelbild ist, abgesehen davon, dass es vom unteren Bildrand überschnitten wird, leicht verkürzt. Von der Wasseroberfläche als Spiegelachse sind die beiden Gesichter unterschiedlich weit entfernt. Die Differenz der Entfernungen entspricht der Differenz der Armverkürzungen beim Spiegelbild – etwa 2,5 cm. Die Gesichter stehen auch nicht senkrecht übereinander, wie es bei einer illusionistischen Spiegelung notwendig wäre, sondern sind leicht gegeneinander versetzt.
Rainald Raabe hat auf einen wichtigen Grundzug dieses Bildes hingewiesen: dass nämlich der Betrachter ausgeschlossen ist. Caravaggio zeige Narziss in einem sehr intimen Zustand, nämlich schmerzhaft in sich selbst verliebt: „Der Betrachter wird angesichts dieser Figur zwangsläufig zum Voyeur“ (Raabe 1996, S. 57). Die Unzugänglichkeit des Narziss drückt sich nicht nur in der schon angesprochenen geschlossenen Kreisform der beiden Figuren aus. Narziss verweigert uns auch die Teilnahme an dem, was in ihm vorgeht, denn die Augen als Hauptausdrucksträger der Seele liegen nicht nur tief verschattet in ihren Höhlen, sondern sind dem Betrachter durch die herabhängenden Lider gänzlich entzogen.
Auf ein Objekt und gleichzeitig auf dessen Spiegelung zu blicken, bedeutet, dass der Betrachter von einem Punkt aus beobachtet, der nur wenige Zentimeter über der Spiegelfläche liegt. Das sei hier jedoch, so Raabe, nur möglich, wenn man sich den Betrachter bis zum Kinn im Wasser denke. Die schlüssige Erklärung für diesen ungewöhnlichen Betrachter-Standort biete der antike Narziss-Mythos. Denn der schöne Jüngling wurde tatsächlich beobachtet, Tag und Nacht, und zwar von der Quellnymphe Echo, die sich in Liebe zu ihm verzehrte. „Ihr ist der Blick aus ihrem Element, dem Wasser, natürlich, und so wird dem Betrachter durch die Anlage des Bildes der Blickwinkel der Echo zugewiesen“ (Raabe 1996, S. 57). Der nur gemalte Knabe ist für die Quellnymphe Echo genauso unerreichbar wie sein Spiegelbild für Narziss. „Während Narziss sein Spiegelbild innerhalb der illusionistischen Fläche nicht erreichen kann, ist Echo eine andere Grenze gesetzt. Sie befindet sich außerhalb der Leinwand, denn sie ist jeder Rezipient“ (Raabe 1996, S. 59). 
Hubert Damisch will in seiner Deutung des Gemäldes das unbekleidete rechte Knie des Narziss nicht übergehen: Wird es nicht wie ein Phallus ins Bild gesetzt, um so das erotische Verlangen des Jünglings zu verdeutlichen? Mit scheint das doch ein sehr moderner Blick auf Caravaggios Werk. Unbestritten ist, dass dieses Knie eine prominente Stelle im Bild einnimmt und sozusagen die Nabe im Rund der Figurenkomposition bildet.
Der Architekt und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1404–1472) bezeichnet in seinem Buch De pictura (1435) Narziss als „Erfinder der Malerei“. Er sieht in dem Wunsch des Jünglings, das geliebte Spiegelbild zu umarmen, eine Analogie zum Wesen der Malkunst. Es ist durchaus denkbar, dass sich Caravaggio in seiner äußerst konzentrierten Darstellung auf Alberti bezieht. Das Bildthema wäre dann nicht nur der Mythos von Narziss, sondern auch die Autothematisierung der Malerei, die über ihren Ursprung im Ebenbild, im Spiegelbild, im Erscheinen, Schauen und Gesehen-Werden reflektiert, die sich folglich spiegelt und bespiegelt“ (Kretschmer 1991, S. 180). Christiane Kruse betont den medientheoretischen Charakter von Albertis Diktum: Narziss möchte das Bild festhalten, weil er die flüchtige Eigenschaft des Spiegelbildes, das mit dem Objekt vor dem Spiegel kommt und geht, bemerkt habe. Narziss hat die Malerei erfunden, um einem Mißstand des Spiegelbildes abzuhelfen. Die Umarmung der Bildquelle (...) kommt der Verwandlung des ephemeren, des flüssigen und ungerahmten Mediums Quellspiegelbild in das feste, dauerhafte Medium des gemalten und gerahmten Bildes gleich (Kruse 1999, S. 105). Nach Alberti ist es Ziel der Malerei, durch eine technisch perfekte Nachahmung der Natur ein Höchstmaß an Illusion von wirklicher Welt beim Bildbetrachter hervorzurufen. Sein Narziss sei so fasziniert von der illusionsgenau gespiegelten Welt, daß er sie für immer festhalten möchte (Kruse 1999, S. 106). Deshalb erfindet er ein künstliches Medium, die Malerei, das die Illusion fixiert.
Für Christiane Kruse ist Caravaggios Narziss jedoch nicht der Erfinder der Malerei, sondern Gefangener der Illusion. Die Kreisfigur, die er und die Spiegelgestalt bilden, deutet auf dieses Gefangensein des unwissenden Knaben hin: Narziss erblickt sehnsuchtsvoll die Schönheit des anderen, aber er sieht nicht, dass es nur sein Spiegelbild ist, das ihm entgegenblickt. Caravaggio benutzt, so Kruse, das Narziss-Thema, um die illusionserzeugende, täuschende Wirkung der Malerei und ihre Bildmacht zu bezeugen: „In der Narziß-Figur führt er exemplarisch jeden Bildbetrachter vor, der in die ästhetische Welt des Gemäldes eintritt und, indem er deren Künstlichkeit vergißt, sich von ihr faszinieren und hinreißen läßt“ (Kruse 1999, S. 112).

Literaturhinweise
Damisch, Hubert; Barocker Narziß? In: Vera Beyer u.a. (Hrsg.), Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 191-204;
Diehl, Ute: Das Trugbild des Narziß. Auf den Spuren des unbotmäßigen Malers Caravaggio. In: F.A.Z., 20. 01.1996, S. B2;
Fried, Michael: The Moment of Caravaggio. Princeton University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 134-139;
Kretschmer, Hildegard: Beobachtungen zur Bildsprache von Caravaggio. In: Karl Möseneder/Andreas Prater (Hrsg.), Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag. Georg Olms Verlag, Hildesheim u.a. 1991, S. 169-182;
Kruse, Christiane: Selbsterkenntnis als Medienerkenntnis. Narziß an der Quelle bei Alberti und Caravaggio. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26 (1999), S. 99-116;
Pfisterer, Ulrich: Künstlerliebe. Der Narcissus-Mythos bei Leon Battista Alberti und die Aristoteles-Lektüre der Frührenaissance. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 64 (2001), S. 305-330; 
Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien zu Caravaggios römischem Werk. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 56-59;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 72/75;
Wolf, Gerhard: »Arte superficiem illam fontis amplecti«. Alberti, Narziß und die Erfindung der Malerei. In: Diletto e moraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock. Rudolf Preimesberger zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Christine Göttler u.a. Edition Imorde, Emsdetten 1998, S. 11-33.

(zuletzt bearbeitet am 25. Mai 2020) 




Material

1.


Caravaggio’s Narcissus in Rome

Look at yourself, the shine, the sheer
Embodiment thrown back in some
Medium like wood or glass. You stare,
And many to this gallery come
Simply to see this picture. Clear
As glass is it. It holds the eye
By subject and its symmetry.

Yes, something of yourself is said
In this great shining figure. You
Must have come to self-knowledge, read
Yourself within that image who
Draws every visitor. You made
From gleaming paint that tempting thing –
Man staring at his suffering.

And at his joy. But you stopped where
We cannot pause, merely make sure
The picture took you from the stare,
Fatal within: Chagall or Blake
Have exorcized your gazing for
A meaning that you could not find
In the cold searchings of your mind.

Elizabeth Jennings


(aus: Elizabeth Jennings, The Collected Poems. Carcanet Press, Manchester, 1986)
 

Freitag, 21. Juni 2013

Jan van Eycks „Mann mit rotem Turban“


Jan van Eyck: Bildnis eines Mannes mit rotem Turban (1433); London, National
Gallery (für die lohnenswerte Großansicht einfach anklicken)
Das Jahr 1433 kann mit Fug und Recht als ein Meilenstein in der Geschichte des Porträts gelten. In dem Londoner Bildnis eines Mannes mit rotem Turban, das Jan van Eyck am 21. Oktober jenes Jahres vollendete, wendet sich der Blick des Dargestellten aus dem Bild heraus und unmittelbar dem Betrachter zu. Zum ersten Mal in in dieser Bildgattung versucht der Dargestellte, direkten Kontakt mit dem Betrachter aufzunehmen, „und da der Künstler ihn en buste, unter Weglassung der Hände, wiedergegeben hat, zeigt das Bild nichts, was vom Magnetismus des Gesichts ablenken könnte“ (Panofsky 2001, S. 195). Jan van Eycks kleinformtiges Bildnis (33,3 x 25,8 cm) gilt außerdem als eines der frühesten autonomen Selbstporträts der Neuzeit – vielleicht ist es überhaupt das erste.
Die dunkle Büste des etwa Fünfzigjährigen taucht wie aus dem Nichts aus dem schwarzen Porträthintergrund auf. „Mit ungeheurer Feinheit konzentriert der Maler das Licht, das seine größte Helligkeit in der Augenpartie des Mannes erreicht, auf die Inszenierung des wichtigsten künstlerischen Organs“ (Belting 1994, S. 151). Gekleidet ist der Dargestellte in ein Gewand von feinstem schwarzen Samt, das mit üppigem Pelzbesatz versehen wurde. Bei dem Kopfschmuck, der missverständlich – weil orientalisierend – als Turban bezeichnet wird, handelt es sich um ein zeit- und ortstypisches Bekleidungsstück, den Chaperon oder die Seidelbinde. Er zieht beinahe ebensoviel Aufmerksamkeit auf sich wie das Gesicht – eine virtuose „Faltenrhapsodie“ (Beyer 2002, S. 43). 
Das Porträt ist in seinem vergoldeten Originalrahmen erhalten. Er soll dem Betrachter „den Ruhm bestätigen, den der Maler durch seine Arbeit am Bild begründet“ (Gludovatz 2005b, S. 124). Auf den Holzrahmen hat van Eyck eine Inschrift gemalt, scheinbar eine in Gold getriebene Gravur aus teilweise pseudogriechischen Majuskeln. Sie zeigt oben das Motto des Künstlers in flämischer Sprache: „ALS ICH CAN“. Es wird üblicherweise mit „so gut (wie allein) ich es kann“ übersetzt eine Devise, in der ebenso Demut wie Selbstbewusssein angelegt sind. Unten stehen auf gleiche Weise die Signatur und das Vollendungsdatum des Gemäldes in Latein: „JOH(ANN)ES DE EYCK ME FECIT AN(N)O MCCC 33 21 OCTOBRIS“ (Johannes van Eyck hat mich am 21. Oktober 1433 gemacht). Die exakte Datierung und Bekräftigung der Autorschaft unterstreichen das Verlangen van Eycks nach größtmöglicher Wirklichkeitstreue. Die goldene Schrift auf ebensolchem Grund wiederum enthält vielleicht ein Antikenzitat, vermutet Karin Gludovatz (2005a): Plinius d.Ä. berichtet in seiner Naturalis historia, der berühmte Maler Zeuxis habe seinen Gewändern mit goldenem Faden stolz den eigenen Namen eingestickt.
Auffallend an van Eycks Gesicht ist besonders das vom Betrachter aus gesehen rechte Auge: Es ist frontal auf uns gerichtet und sitzt beinahe wie ein Emblem im Antlitz. „Im Auge verkörpert sich der für den Maler zentrale Sinn, das Sehen, und nicht zufällig liegt es exakt auf einer Achse mit dem I (»ICH«) des Mottos: Van Eyck demonstriert mit dieser Überlagerung von Individuum und Profession seine Identität“ (Gludovatz 2005a).
Jan van Eycks Selbstporträt im Originalrahmen
1433 war ein bedeutsames Jahr für den Maler – van Eyck vollendete den Genter Altar, an dem er 15 Jahre gearbeitet hatte, der ihn berühmt machte und es ihm ermöglichte, sein eigenes Haus in Brügge zu erwerben. Zudem heiratete van Eyck 1433. Die ihm zuvor immer nur gleichsam im Zeitvertrag zugewiesene Stelle als Kammerherr von Philippe le Bon wurde durch den Herzog nun auf Lebenszeit gewährt und sein jährliches Gehalt um nahezu das Doppelte erhöht – „Gründe genug, sich des eigenen gestiegenen Selbstverständnisses auch bildhaft zu versichern und ein Selbstporträt davon dauerhaft Zeugnis ablegen zu lassen (Beyer 2002, S. 43).
Jan van Eyck: Margareta van Eyck (1439); Brügge, Groeningemuseum
Sechs Jahre später sollte van Eyck auch das Bildnis seiner Ehefrau Margareta malen, die gleichfalls in Dreiviertelansicht wiedergegeben und dazu von einem ähnlichen, nur geringfügig größeren Rahmen eingefasst wird. Der trägt eine Inschrift, die uns mitteilt, dass Margareta mit einem Maler namens Johannes verheiratet war und 1439, als das Bildnis angefertigt wurde, 33 Jahre zählte. Und auch dieses Porträt signiert van Eyck sozusagen mit seinem Motto
ALS ICH CAN. Die Kunsthistoriker streiten allerdings darüber, ob es sich bei dem Mann mit rotem Turban und dem Bildnis der Margareta van Eyck um echte Pendants handelt. Dagegen spricht vor allem, dass sich beide nach rechts wenden und nicht einander zu.
Margaretas zierlicher Körper verschwindet geradezu in der plastischen Fülle des mantelartigen roten Oberkleides (einem Tabbaert). Ihr Gesicht, gerahmt von einer Hörnerhaube mit weißem Krüseler, ist so naturalistisch dargestellt, „dass die gelängte, schmale Nase beinahe die Bildgrenze zu überschreiten und in den Betrachterraum hineinzuragen droht“ (Gludovatz 2004, S. 24). Auch Margareta sieht uns aus dem Bild heraus direkt an – „aus dem Blickobjekt ist ein Blicksubjekt geworden, das sieht, wer es ansieht“ (Gludovatz 2004, S. 25). Die rechte Hand Margaretas mit dem Ehering wurde erst später hinzugefügt. Das Gemälde ist das einzige erhaltene autonome Frauenbildnis van Eycks; die Porträts der Jacobäa von Bayern und der Isabella von Portugal (das der Maler 1429 als Brautbild für den werbenden Herzog Philippe le Bon anfertigte), sind nur in Kopien überliefert.
Dass van Eyck seine Ehefrau in ihrem 33. Lebensjahr abbildet, steht wahrscheinlich in einem religiösen Zusammenhang: Nach Augustinus ist dies nämlich das Alter, in dem jeder Mensch am Jüngsten Tag auferstehen wird. Vor diesem Hintergrund würde sich in ihrem Porträt auch eine Heilshoffnung ausdrücken. Das gilt ebenso für das Bildnis eines Mannes mit rotem Turban: Der wurde zwar nicht in seinem 33. Lebensjahr, aber 1433 gemalt, wobei das 33 in arabischen Ziffern geschrieben und von der römischen Jahreszahl MCCCC noch durch Punkte abgesetzt ist.

Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002;
Gludovatz, Karin: Vom Ehemann vollendet: Die Bildwerdung der Margareta van Eyck. In: Simone Roggendorf/Sigrid Ruby (Hrsg.), (En)gendered: Frühneuzeitlicher Kunstdiskurs und weibliche Porträtkultur nördlich der Alpen. Jonas Verlag, Marburg 2004, S. 18-37; 
Gludovatz, Karin: Jan van Eyck, Der Mann mit dem roten Turban, 1433. In: Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen (Hrsg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005a, S. 34;
Gludovatz, Karin: Der Name am Rahmen, der Maler im Bild. Künstlerselbstverständnis und Produktionskommentar in den Signaturen Jan van Eycks. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte LIV (2005b), S. 115-175;
Jansen, Dieter: Jan van Eycks Selbstbildnis – der »Mann mit dem roten Turban« und der sogenannte »Tymotheos« der Londoner National Gallery. In: Pantheon 47 (1989), S. 36-48;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953).

(zuletzt bearbeitet am 18. Juli 2023)

Montag, 17. Juni 2013

Robert Campins „Bildnis eines feisten Mannes“


Robert Campin: Bildnis eines feisten Mannes (um 1425); Berlin, Gemäldegalerie
Die Malerei des Nordens hatte im 14. Jahrhundert aus Italien das Porträt in reiner Profilansicht übernommen, es im Lauf der Zeit aber wieder aufgegeben, um sich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts anderen, ganz eigenen Darstellungsformen zuzuwenden, vor allem dem Porträt in Dreiviertelansicht. Nach der Haltung, insbesondere der Kopfstellung des Dargestellten, unterscheidet man in der Malerei die Frontal-/Vorderansicht oder En-face-Gestaltung und die Seitenansicht, auch Profil genannt. Ein halb von der Seite ausgeführtes Bildnis wird als Halbprofil bezeichnet. Überwiegt eine Kopf- bzw. Körperseite im Profil, so heißt dies Dreiviertelansicht. Dabei ist eine Seite voll, die andere hingegen sehr stark verkürzt wiedergegeben. Bildbeschreibungen orientieren sich dabei in der Regel an der Sicht des Betrachter. Wenn es z. B. bei einem Bildniskopf heißt, „im Profil nach rechts“, so bedeutet dies, dass die rechte Seite des Dargestellten zu sehen ist, mit Blickrichtung nach rechts.
Robert Campins kleinformatiges Bildnis eines feisten Mannes, wie er wenig charmant, aber treffend genannt wird, gilt als das früheste datierbare „Privatporträt“ der Kunstgeschichte. Wir haben hier also eines der ersten autonomen Bildnisse vor uns, bei dem der Dargestellte nicht mehr wie bisher als Stifter im Kontext eines religiösen Gemäldes wiedergegeben wird. Es ist vermutlich um 1425 entstanden und existiert in zwei Fassungen – eine befindet sich in Madrid (Sammlung Thyssen-Bornemisza) und eine in Berlin (Gemäldegalerie). Das Modell konnte sogar identifiziert werden (allerdings nicht ganz unangefochten): Es handelt sich um Robert de Masmines. Er gehörte dem flandrischen Hochadel an, stand seit 1409 im Dienst der burgundischen Herzöge und fiel 1430 in der Schlacht von Bouvines. Zuvor war er zu einem der Ratgeber und zum Kammerherrn des Herzogs Philipp der Gute ernannt worden. Er gehörte zu den Ersten, denen der von Philipp dem Guten im Jahr 1430 gestiftete Orden vom Goldenen Vlies verliehen wurde. De Masmines ist auf seinem Porträt jedoch ohne Ordenskette wiedergegeben – ein wichtiger Hinweis darauf,  dass dieses Bildnis früher entstanden ist. Überhaupt fehlen dem Bildnis Attribute, die auf die Identität oder den Stand des Dargestellten hinweisen würden. „Anscheinend ist der Mann in erster Linie als er selbst wiedergegeben statt als der Inhaber eines Amtes oder einer Würde“ (Kemperdick 2008, S. 265). Das spricht für einen eher privaten Charakter des Porträts, das wohl vornehmlich für die Familie und die Nachkommen gedacht war. Auch die exakte Kopie lässt solche Zusammenhänge vermuten.
„Das wulstige Gesicht des Porträtierten ist mit gleichsam bildhauerischem Gestus modelliert. Der Verismus des Malers geht in dem ja bis in die Poren seines Modells nachspürenden Bildnis sogar so weit, die Häßlichkeit der Person nicht zu verbergen. Ungeschönt, keinem höfischen Ideal der Grazie verpflichtet, erscheint der Dargestellte in seiner ganzen proteingeladenen, diesseitigen Unverwechselbarkeit“ (Beyer 2002, S. 33). Jede Falte, jede Narbe, jedes Barthaar des Dargestellten scheint erfasst. Dabei wird die neuartige Präsenz, Plastizität und Lebendigkeit, die das Porträt ausstrahlt, zunächst und vor allem dadurch erlangt, dass Robert Campin (um 1375–1444) die Dreiviertel- und nicht die Profilansicht gewählt hat. Das massige Gesicht des nach links gewendeten Charakterkopfs mit seinem feisten Doppelkinn, dem weichlichen Mund, der wulstigen Nase und dem ausgeprägten Bartschatten sprengt fast den engen Bildausschnitt. Der Kopf wirkt geradezu monumental, obwohl er tatsächlich deutlich unter der natürlichen Größe bleibt. „Von rechts einfallendes Licht modelliert die fleischigen Gesichtskonturen des Mannes und fängt sich in jeder wie gemeißelt wirkenden Furche und Falte des wächsernen Inkarnats“ (Belting/Kruse 1994, S. 173).
Der in Tournai ansässige Robert Campin war neben Jan van Eyck einer der ersten Künstler in den burgundischen Niederlanden, die mit ihren Werken den Stil der Spätgotik hinter sich ließen und einen völlig neuartigen Realismus in die Malerei einführten. Ein vertiefter, naturgetreuer Bildraum, große Detailgenauigkeit und die plastische Gestaltung der Figuren sind die wichtigsten Elemente dieser neuen Kunst.

Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 172-173;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002;
Kemperdick, Stephan: Bildnis eines feisten Mannes. In: Stephan Kemperdick/Jochen Sander (Hrsg.), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008, S. 265-271;
Thürlemann, Felix: Robert Campin. Eine Biographie mit Werkkatalog. Prestel Verlag, München 2002, S. 77-78 und 258-259.

(zuletzt bearbeitet am 23. Mai 2020)

Samstag, 15. Juni 2013

Gemalter Glaube – Caspar David Friedrichs „Winterlandschaft mit Kirche“


Caspar David Friedrich: Winterlandschaft mit Kirche (1811, 33 x 45 cm);
Dortmund, Museum für Kunst und Kulturgeschichte
Caspar David Friedrich: Winterlandschaft (1810, 33 x 46 cm); Schwerin, Staatliches Museum
Bis 1812 entstanden die meisten Gemälde von Caspar David Friedrich (1777–1840) als Bilderpaare. Mehrfach sind seine Gegenstücke jedoch schon bald voneinander getrennt worden. Schriftliche Zeugnisse und übereinstimmende Bildgrößen machen es aber relativ leicht, zusammengehörige Werke zu erkennen. Ein solches Bilderpaar sind auch die beiden Winterlandschaften in Schwerin und Dortmund.

Auf dem Schweriner Gemälde steht ein auf Krücken gestützter Wanderer inmitten von Baumstümpfen und bizarren, kahlen Eichen. Er schaut in eine endlose Schneewüste hinaus. Der dunkelblaue, völlig verschlossene Himmel bietet keinen einzigen Lichtpunkt. Die Natur ist ohne einen Funken Leben, alles wirkt trostlos, nirgends zeigt sich ein Weg, der begehbar wäre. Verloren und verzweifelt blickt der gebückte, einsame Greis in eine Landschaft, die von Todessymbolen beherrscht wird. ,,Die Baumstümpfe rings umher sehen wir Grabsteine aus; daher wirkt die Szenerie wie ein Friedhof im Schnee“ (Zimmermann 2000, S. 210). Das ganze Bild ist in seiner hoffnungslosen Düsternis Ausdruck für das endgültige und totale Nichts, als das dem Menschen der Tod erscheinen muss, wenn er nicht an eine Auferstehung glaubt.
Das Dortmunder Gegenstück gibt nun die christliche Antwort darauf. Auch hier ist die hügelige Landschaft schneebedeckt. Bis hierhin ist der Wanderer gekommen. Er hat seine Krücken weggeworfen und sitzt, an einen Fels gelehnt, betend vor einem Kruzifix, das inmitten einer Gruppe junger Tannen aufgerichtet ist. Ein rosig schimmerndes Abendgewölk erhellt im Hintergrund die Umrisse eines fernen gotischen Doms. Es ist kein realer Bau, er taucht vielmehr wie eine Vision aus dem Nebel auf. In dieser Weise hat Friedrich später noch mehrmals gotische Architektur dargestellt, so z. B.  in dem Bild Vision der christlichen Kirche (1812), Kreuz und Kathedrale im Gebirge (1812) oder Die Kathedrale (um 1818). 


Caspar David Friedrich: Vision der christlichen Kirche (1812);
Schweinfurt, Museum Georg Schäfer
Caspar David Friedrich: Kreuz und Kathedrale im Gebirge (1812); Düsseldorf Museum Kunstpalast
Caspar David Friedrich: Die Kathedrale (1818); Schweinfurt, Museum Georg Schäfer
Die gotische Kirche ist ein Sinnbild des Heils. Sie verheißt, dass über die dunkle Stunde des Todes hinaus eine himmlische Welt und ewiges Leben auf den warten, der sich Christus anvertraut. Wer im Sterben auf den Gekreuzigten blickt, der wird ihn als Tröster und Retter erleben. Um diesen Zusammenhang noch augenfälliger zu machen, hat Friedrich die Umrisse der Tannen und des schemenhaften Kirchenbaus einander angeglichen. Was der Felsblock und die immergrünen Tannen bedeuten, wird verständlich, wenn wir uns an Friedrichs eigene Deutung  des Tetschener Altars erinnern: Sie sind Symbole des Glaubens und der Hoffnung (siehe meinen Post „Der große Mittler“).
Die Dortmunder Winterlandschaft mit Kirche ist von einer Vertikalität bestimmt, die dem Schweriner Bild völlig fehlt: Die fünf schlanken, spitzen Türme der schemenhaften Kirchenfassade, die pfeilartig in den Himmel ragenden Tannen und auch das Kruzifix selbst weisen überdeutlich nach oben, ,,wo nach uralten Vorstellungen die Gottheit wohnt“ (Neidhardt 1990, S. 67). Von dort erwartet der Betende, am „Fels des Glaubens“ lehnend, Beistand und Stärkung. Dass er sie auch empfangen wird, verheißt der warme, rötliche Schimmer am Himmel, der sich nur über der Kirchenfassade zeigt. Die Bäume auf dem Schweriner Pendant sind dagegen schiefe, gleichsam richtungslose Gebilde, und von den Baumstümpfen steht keiner wirklich senkrecht. Selbst in der gebeugten Gestalt mit der Krücke wiederholt sich der Ausdruck des Abgeknickten, Niedergedrückten, Orientierungslosen“ (Neidhardt 1990, S. 67). Zudem wirkt die V-artige Anordnung der beiden kahlen Bäume, als würden sie den einsamen Wanderer regelrecht in die Zange nehmen.
Karl-Friedrich Hoch sieht in den Krücken des Beters einen Zeitbezug: Sie verweisen seiner Ansicht nach auf die Krüppel und Versehrten der Napoleonischen Befreiungskriege, die die Menschen 1810/1811 wohl zahlreich vor Augen hatten.
Caspar David Friedrich: Winterlandschaft mit Kirche (1811); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Eine 1987 von der National Gallery in London ersteigerte weitere Version dieses Bildes verstärkt durch zusätzliche Symbole die religiöse Botschaft der Naturdarstellung: Dort sind noch Grashalme zu sehen, die durch die Schneedecke dringen – wie so oft auf den Bildern Friedrichs ein Hinweis auf die Auferstehungshoffnung der Christen; außerdem führt hier ein Torbogen als Sinnbild des Todes in die Tiefe des Hintergrunds.

Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Zur Deutung der Kunst Caspar David Friedrichs. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 27 (1986), S. 199-224;
Hoch, Karl-Friedrich: Zur Ikonographie des Kreuzes bei C.D. Friedrich. In: Kurt Wettengl (Hrsg.), Caspar David Friedrich – Winterlandschaften. Edition Braus, Heidelberg 1990, S. 71-74;
Neidhardt, Hans Joachim: Angst und Glaube. Zur Bildstruktur und Deutung von C.D. Friedrichs Bildpaar Winterlandschaft. In: Kurt Wettengl (Hrsg.), Caspar David Friedrich – Winterlandschaften. Edition Braus, Heidelberg 1990, S. 67-70;
Zimmermann, Reinhard: Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Caspar David Friedrichs »Gedanken« in den Bilderpaaren. In: Jahrbuch der Berliner Museen 42 (2000), S. 187-257.

(zuletzt bearbeitet am 5. April 2024)


Donnerstag, 13. Juni 2013

Der schielende Kardinal – Raffaels Porträt des Tommaso Inghirami


Raffael: Tommaso Inghirami (um 1511); Florenz, Palazzo Pitti
Tommaso Inghirami (1470–1516), 1510 zum Präfekten der päpstlichen Bibliothek ernannt, sitzt in rotem, über dem fülligen Leib gegürten Rock und roter Kappe leicht nach rechts geneigt hinter einem Tisch. Der humanistisch interessierte Kardinal wird in einem Inneraum gezeigt, seinem studiolo. Die Halbfigur reicht mit beiden Ärmeln bis an die seitlichen Bildränder heran und hebt sich markant vor dem dunklen Grund ab. Auf dem bildparallelen Tisch befinden sich ein Buch und Schreibutensilien. Das Buch wird zur bequemen Lektüre von einem Schreibkasten gestützt, sodass wir als Betrachter keinen Einblick nehmen können. Der Kardinal ist zwar mit uns als Betracher auf Augenhöhe dargestellt– aber er blickt uns nicht an.
Inghirami war nachweislich von heftigem Schielen geplagt; Raffael macht in seinem Porträt aus diesem körperlichen Defizit eine Tugend: Der Kardinal richtet seinen Blick nach links oben, als erwarte er eine göttliche Eingebung. Besonders die weit in den oberen Augenwinkel zurückgezogene rechte Pupille vermittelt diesen Eindruck. In seiner verkürzt dargestellten Rechten hält Inghirami eine Schreibfeder – noch sind die Papierbögen vor ihm leer. Der linke Unterarm stützt sich auf das aufgeschlagene Buch – es soll auf Inghiramis Gelehrsamkeit verweisen. Der Kardinal erscheint dazwischen platziert und somit als Medium, durch das hindurch die göttliche Inspiration „in die Hand, die Schrift und endlich aufs Papier findet“ (Beyer 2002, S. 146).
Raffael: Disputa (um 1510/11); Rom, Fresko in der Stanza della Segnatura (für die Großansicht einfach anklicken)
Papst Julius II. hatte Raffael 1508 aus Florenz nach Rom berufen, weil er dort die päpstlichen Gemächer, die sogenannten Stanzen, ausmalen sollte. Raffael traf dort Ende 1508 oder Anfang 1509 ein und begann, die Stanza della Segnatura zu freskieren (1509 bis 1511) – zusammen mit Leonardos Abendmahl und der Sixtinischen Kapelle Michelangelos die berühmtesten Wandmalereien der Renaissance. Man nimmt an, dass Raffael gemeinsam mit Tommaso Inghirami die inhaltliche Ausgestaltung der Stanza della Segnatura erarbeitet hat.

Literaturhinweis
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002.

(zuletzt bearbeitet am 23. Mai 2020)