Mittwoch, 5. März 2014

Stilvoll geklaut – „Die Bogenschützen“ von Joshua Reynolds


Joshua Reynolds: Die Bogenschützen (1769); London, Tate Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Joshua Reynolds (1723–1792) war neben William Hogarth (1697–1764) und Thomas Gainsborough  (1727–1788) der bekannteste und einflussreichste englische Maler des 18. Jahrhunderts. Als 1768 die Royal Academy of Arts gegründet wurde, ernannte ihn König Georg III. zu deren erstem Präsidenten; im Jahr darauf adelte er Reynolds für seine Verdienste. Reynolds war der Sohn eines Geistlichen und begann mit siebzehn Jahren in London eine Lehre bei dem Porträtmaler Thomas Hudson. Es waren vier Lehrjahre ausgemacht, doch schon nach zweieinhalb Jahren verließ Reynolds die Werkstatt Hudsons wieder, da er alles gelernt hatte, was Hudson ihm beibringen konnte. In den folgenden Jahren versuchte er sich in Plymouth in der Porträtmalerei. Als er von 1750 bis 1752 Italien bereiste, vervollständigte er seine künstlerische Ausbildung. Reynolds war begeistert von der Kunst der Antike und der Hochrenaissance, vor allem von den Werken Raffaels und Michelangelos.
Nach London zurückgekehrt, ist der Einfluss Italiens in seinen Werken unverkennbar. Fortan widmet sich Reynolds dem „Grand Style“ und wird zum Verfechter einer Porträt- und Historienmalerei, die sich am Ideal der großen Kunst vergangener Epochen orientiert. Mit seiner Methode des „borrowing“ übernimmt er Motive, Figuren oder Gesten antiker oder klassischer Kunstwerke in sein Werk. Dabei geht es aber nicht um ein simples Kopieren der verehrten Vorbilder, sondern um aemulatio, das Wetteifern mit ihnen – mit dem Ziel, die alten Meister zu übertreffen. An einem berühmten Beispiel von Reynolds’ Porträtkunst, den Bogenschützen aus der Londoner Tate Gallery, lässt sich sein Verfahren des „borrowing“ exemplarisch ablesen.
Es handelt sich um ein Doppelporträt, das in der Akademieausstellung von 1770 zu sehen war. Das Gemälde zeigt Thomas Townshend und Colonol John Dyke Acland, die das Bild gemeinsam in Auftrag gegeben hatten. Ungewöhnlich für ein Porträt ist vor allem, dass die beiden nicht mit Pfeil und Bogen vor dem Betrachter posieren, sondern tatsächlich auf der Jagd zu sein scheinen, ohne vom Betrachter Notiz zu nehmen. Fast lebensgroß, sind die zwei Männer auf einem schmalen Streifen hintereinander gestaffelt und haben in beinahe völligem Profil ihre gespannte Aufmerksamkeit zur rechten Seite gewendet.
Thomas Townshend, der dreizehn Jahre Ältere, steht vorn und weiter links im Bild. Er hat sich trotz eines weiten Ausfallschrittes zurückgelehnt, um beim Bogenspannen das Gleichgewicht zu halten. Colonel Acland, der Jüngere hinter ihm, hat seinen riesigen Bogen bereits vollständig gespannt; er stürmt mit mächtigem Schritt nach rechts und wird seinen Pfeil wohl im nächsten Moment abschießen. Sein wehendes Haar verstärkt den Eindruck des Vorwärtsstürmens.
Townshend ist, seinem festen Stand entsprechend, links ein stabiler Baumstamm zugeordnet. Sein Blattwerk überwölbt die beiden Schützen, lässt aber um den Kopf des dynamischen Acland den Blick auf Landschaft und vor allem Himmel frei. „Der Ausschnitt wird links hinter seinem Kopf von einem schmalen geraden Baumstamm markiert, der zugleich optisch den bewegten Körper arretiert; rechts ist das Blickfeld halbkreisförmig geschlossen, genau der Form des gespannten Bogens folgend“ (Busch 1993, S. 407).
Antonio Pollaiuolo: Kampf zehn nackter Männer (1470/75); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Für die ungewöhnlichen Posen der beiden Bogenschützen hat Reynolds tatsächlich auf eine klassische Bildquelle zurückgegriffen: auf Antonio Pollaiuolos berühmte Darstellung von zehn kämpfenden nackten Männern (um 1470/75). Dieser Kupferstich ist in seiner „Bedeutung für die Entwicklung der anatomisch richtigen Aktdarstellung der Renaissancekunst gar nicht zu überschätzen“ (Busch 1993, S. 408). Pollaiuolo präsentiert auf engstem Raum eine drastische Kampfszene mit dramatisch bewegten nackten Körpern; das Ausholen, Schlagen, Stechen, Schießen, Vorwärtsstürmen, Sichbeugen und -winden und schließlich das erschlaffte Daliegen bei noch schmerzverzerrtem Gesicht bilden das eigentliche Thema. Die Kämpfenden agieren auf schmalem Feld vor dunkler Baum-, Busch- und Pflanzenkulisse; eine Entfesselung archaischer Kräfte und hemmungsloser Wut ist zu sehen.
Reynolds zitiert nun für das Schritt- und Ponderationsmotiv von Townshend den linken Schwertkämpfer der zentralen Vordergrundgruppe, für Acland bedient er sich unverkennbar bei dem heranstürmendem Bogenschützen links im hinteren Figurenstreifen. Der ältere Townshend ist sichtbar der Überlegtere, er steht sicher, wartet auf den richtgen Moment, Colonel Acland agiert weit impulsiver, er stürmt ohne zu zögern auf die Beute los.
Thomas Townshend und Colonol John Dyke Acland waren eng befreundet. Zusammen unternahmen sie ihre „Grand Tour“ nach Italien, die obligatorische Bildungsreise der europäischen Adelssöhne. Ihr Doppelporträt sollte die Erinnerung an das gemeinsame Bildungserlebnis wachhalten. Sie könnten den Kupferstich „als besonderen Nachweis ihrer neuerworbenen kennerschaftlichen Kompetenz mitgebracht haben, zumal sie bei Vasari nachlesen konnten, daß Pollaiuolo der erste Künstler gewesen sei, der detaillierte anatomische Studien betrieben habe, um die innere Verfassung von Körperbau und Muskeln zu begreifen“ (Busch 1993, S. 410). Das Blatt könnte aber auch Reynolds’ reicher grafischer Sammlung entstammen. Auf jeden Fall weist die Verwendung der Posen Pollaiuolos Auftraggeber und Künstler als versierte Kunstkenner aus – und dokumentiert den Bildungswunsch und die Bildungserfahrung der beiden Männer.
Solche Anleihen wie in den Bogenschützen sind in der Kunst eine weit verbreitete Praxis, und viele Kunsthistoriker beschäftigen sich damit, solche stilistischen und motivischen Übernahmen aufzuzeigen. Neu ist bei Reynolds einzig, diese Form des Zitats als systematische Methode zu propagieren. Sie dient vor allem dazu, die Bedeutung eines Werkes auf der einen Seite und den Genuß des Betrachters auf der anderen Seite zu steigern“ (Prochno 1990, S. 48). Die sinnlichen Qualitäten eines Kunstwerks sind nach Reynolds zwar nötig, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber die Essenz eines Bildes ist intellectual pleasure“.
Joshua Reynolds: Selbstbildnis (1748/49); London, National Portrait Gallery

Literaturhinweise
Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. Verlag C.H. Beck, München 1993, S. 407-411;
Prochno, Renate: Joshua Reynolds. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1990, S. 39-48;
Wien, Iris: Joshua Reynolds. Mythos und Metapher. Wilhelm Fink Verlag, München 2009, S. 107-115.

(zuletzt bearbeitet am 25. Juni 2020)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen