Dienstag, 25. November 2014

Großes Unglück auf großer Leinwand – Théodore Géricaults „Floß der Medusa“


Théodore Géricault: Das Floß der Medusa (1819); Paris, Louvre (für die Großansicht unbedingt anklicken)

Am 2. Juli 1816 läuft die französische Fregatte Medusa auf die als gefährlich bekannte Arguin-Sandbank vor der westafrikanischen Küste auf und zerbricht kurze Zeit später. Schuld daran ist ihr unfähiger Kommandant Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys. Obwohl der Käpitan nie das Kommando über einen größeren Flottenverband geführt hatte und seit mehr als 25 Jahren nicht mehr zur See gefahren war, „wurde dieser vollständig unerfahrene Man lediglich aufgrund seiner Zugehörigkeit zum royalistischen Lager mit einer Aufgabe betraut, der er nicht gewachsen war“ (Wedekind 2014, S. 236).

Für die 400 Personen an Bord gibt es nicht ausreichend Rettungsboote, weshalb die Schiffbrüchigen ein Floß aus Planken, Mastteilen und Takelage zimmern, allerdings ohne weitere Auftriebskörper. 150 Menschen sind dafür vorgesehen: Der größte teil einfach Soldaten, 20 Besatzungsmitglieder, Handwerker sowie eine Frau. Als das Gefährt vollbeladen ist, sinkt es so tief unter Wasser, dass die Wellen über die Hüften der Schiffbrüchigen reichen; die Menschen an Bord sind so dicht zusammengedrängt, dass sie nicht einen Schritt tun können. Ausgesetzt waren die Schiffbrüchigen dem Hunger und Durst, der Kälte der Nächte sowie der Sonnenglut des Äquators am Tage, den Stürmen und dem in großen Brechern über das Floß schlagenden Salzwasser, das die Haut zerfraß und höllische, nämlich brennende Schmerzen zur Folge hatte. „Der Grund, auf dem die Männer standen, war tückisch, da zwischen den mit Tauen zusammengebundenen Holzstämmen und Planken des Floßes zahlreiche Löcher klafften, so dass es einiger Anstrengung bedurfte, um nicht dazwischen zu geraten und seine Gliedmaßen zerquetscht zu bekommen oder den darunter im Wasser lauernden Haien und Seenesseln zum  Opfer zu fallen“ (Wedekind 2014, S. 238).
Ihr Unglück wendet sich ins Tödliche, als die Rettungsboote mit dem Rest der Besatzung, die auf die gar nicht so ferne Küste zuhalten, das Tau kappen, mit dem das Floß an Land geschleppt werden sollte. Sie lassen es zurück ohne Navigationsgeräte, ohne Segel, ohne Ruder, ohne Steuer, ohne ausreichende Vorräte. Bereits in der ersten Nacht spült ein Unwetter fünfundzwanzig der Schiffbrüchigen über Bord und macht das Floß manövrierunfähig. Schon bald bricht ein erbarmungsloser Kampf um die sichersten Plätze, die wenigen Lebensmittel und die Macht auf dem Floß aus: In den folgenden vier Tagen regiert der Wahnsinn: Parteien bilden sich und kämpfen in ebenso sinnlosen wie brutalen Schlachten. Manche wollen das Floß zerstören, um möglichst schnell zu sterben. Wellen fegen die Schwächsten ins Meer, andere werden ins Meer gestoßen, erdrückt oder exekutiert, wenn sie Vorräte stehlen. Je mehr sterben, umso stärker hebt sich das Floß aus dem Wasser (Trempler 2013, S. 19/20). Nach drei fürchterlichen Tagen beginnen die Überlebenden, Exkremente zu essen, wenig später die Toten. Und das Töten hört nicht auf. Als nur noch 27 Männer übrig sind, entscheiden die Stärkeren, zwölf der Männer hätten keine Überlebenschance, woraufhin sie von Bord gestoßen werden. Jetzt schwimmt das Floß wirklich frei. Nach insgesamt dreizehn Tagen werden fünfzehn Todgeweihte gerettet, von denen fünf wenig später an Land sterben.
Im Jahr nach der Katastrophe veröffentlichten die beiden Überlebenden Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard ihre Aufzeichnungen als Buch. Ihr Bericht über das Floß der Medusa lieferte den Impuls für eines der imposantesten Bilder des 19. Jahrhunderts. Gemalt hat es Théodore Géricault (1791–1824), zu bestaunen ist es im Louvre. Die riesige Leinwand (491 x 716 cm) zeigt das Floß am Tag der Rettung; zu sehen war das Bild erstmals 1819 im Pariser Salon, der alljährlichen Kunstausstellung im Louvre.
Géricault arbeitete über achtzehn Monate am Floß der Medusa (dank einer Rente, die er aus dem Erbe seiner Mutter bezog, war er finanziell unabhängig). Während dieser Zeit bezog er ein Atelier, das in der Nachbarschaft eines Krankenhauses lag; von den dortigen Ärzten erhielt er die Erlaubnis, Sterbende und Tote zu skizzieren und Berichten nach auch Leichenteile mitzunehmen, um die Verfärbung bei beginnender Verwesung beobachten zu können. Géricault nahm nicht nur mit Savigny und Corréard Kontakt auf, um sich ein möglichst umfassendes Bild von dem Unglücksfall zu machen, sondern auch mit dem Zimmermann der Medusa, der die Floßfahrt ebenfalls überlebt hatte. Von ihm ließ sich der Maler ein kleines Modell des Floßes anfertigen, das in großer Genauigkeit alle Details des Gefährts wiedergeben sollte. Der Künstler reiste ans Meer, um Wellen und Wolken zu beobachten, porträtierte die Zeugen und fertigte an die 50 Entwürfe und Teilstudien in Öl, Aquarell, Feder und Stift an.
Eine Zeichnung des Floßes zum Zeitpunkt der Errettung
Nun zum Gemälde selbst: Wiedergegeben ist, inmitten eines stürmisch bewegten Ozeans,  der erste Sichtkontakt der Schiffbrüchigen mit der Brigg Argus, die im Bild nur als winziger Punkt am Horizont dargestellt wird. In diesem Augenblick schlägt die verzweifelte Dumpfheit nach zwölf Tagen Kampf, Not und Ungewissheit um in eine letzte Hoffnung auf Rettung. Wir blicken auf das hintere linke Eck des Floßes – der stark verkürzt wiedergegebene vordere Teil befindet sich unterhalb einer bedrohlich heranrollenden Welle. Dort lassen sich die beiden Stangen der Brahmsegel erkennen, die man zu einem spitzen Winkel zusammengebunden hatte und die das Vorderteil des Floßes bildeten. 
Das Ensemble der Schiffbrüchigen ist in zwei unterschiedliche Gruppen aufgeteilt: Da sind rechts die Hoffenden, denne links die Trauenden entgegsetzt werden, bestehend aus einem völlig resignierten älteren Mann und dem toten Jüngling auf seinen Beinen. „Einer melancholischen, das Grauen versammelnden Seite links, die auf eine allesverschlingende finale Wellenwand zuzufahren scheint, steht rechts ohne jede Vermittlung eine in barockem Pathos aufgebäumte phallisch geformte Hoffnungsseite gegenüber“ (Wedekind 2014, S. 244). An die Spitze derer, die der Brigg flehentlich mit Kleidungsfetzen winken, steht ein farbiger Mann, der mit Hilfe eines Kameraden ein Fass erklommen hat. Géricault hat seine Gestalt mit der Studie eines Rückenaktes vorbereitet, die sich an den Torso vom Belvedere anlehnt. „Indem ausgerechnet ein anonymer Farbiger, der zudem nur von hinten zu sehen ist, an eine kompositorische Heldenposition gesetzt worden ist, wurde dem Publikum, das gewöhnt war, in einem Historienbild nach einer Heldenfigur Ausschau zu halten, nichts geboten; die zahlreichen Salonkritiken sind auf die Figur tatsächlich auch so gut wie nicht zu sprechen gekommen“ (Wedekind 2014, S. 242).   
Die Wunde am linken Arm des Vaters könnte von einem Axthieb stammen – oder einem Biss
Der zweiten sehr auffälligen Figur, ein resignierter alter Mann links im Vordergrund in Melancholie-Pose, fehlt ebenfalls alles Heldische – dazu ist er viel zu passiv und isoliert. Wie bei einer Pietà liegt der hingesunkene Leichnam eines nackten Jünglings in seinem Schoß. Wahrscheinlich handelt es sich um Vater und Sohn. Man hat in der gramgebeugten Gestalt des alten Mannes eine Hommage an Géricaults Lehrer Pierre-Narcisse Guèrin (1774–1833) gesehen, insbesondere an dessen Figur des Marcus Sextus vor dem Leichnam seiner Frau, da sich die Gesichtszüge der beiden Männer sehr ähnlich sind.
Pierre-Narcisse Guérin: Die Rückkehr des Marcus Sextus (1799); Paris, Louvre
Der Körper des Jünglings ist leicht nach vorn gekippt, sein linker Arm liegt ausgestreckt mit geöffneter, kraftlos dahingesunkener Hand auf den Planken, die Beine spreizen sich über einem Balken. Doch anders als z. B. bei Michelangelos römischer Pietà wird uns sein entblößtes Geschlecht dargeboten (im Kontrast dazu sind die beiden Füße zum Schutz vor dem Salzwasser mit weißen Tüchern umwickelt), um das Ausmaß dieses entwürdigenden Todes zu verdeutlichen. Die Trauergruppe unten links fungiert als Gegenbild zu der Menschenpyramide oben rechts, die sich gegen ihr Schicksal aufbäumt.
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Strecken sich manche Männer mit den Händen nach ihrer letzten Hoffnung aus, sind andere längst kraftlos hingesunken und bleiben teilnahmslos – sei es, weil sie abgrundtiefe Verzweiflung beherrscht, sei es, weil sie im Sterben liegen oder bereits tot sind. Die übergreifend monchrome Farbigkeit macht es allerdings in manchen Fällen schwer, zu entscheiden, wer tot und wer lebendig ist. Durch diese Vereinheitlichung erscheinen alle auf dem Floß einem einzigen und dem gleichen Leid unterworfen. Zum Greifen nah sind dem Betrachter die Leiber der Toten, die ihm am unteren Bildrand regelrecht vom Floß her entgegenzugleiten scheinen. „Moralische Erhebung lässt sich der Darstellung dieser Leichen, die keine für eine gute Sache Gefallenen sind, sondern elendig verreckte Kadaver, nicht abgewinnen“ (Wedekind 2014, S. 245). 
Allerdings zeigt das Bild entgegen Savignys und Corréards Schilderung von Auszehrung und Verwundungen tendenziell intakte Körper: ohne Verletzungen, ohne Biss- und Hiebwunden, ohne Kratzer, ohne offene Geschwüre, ohne in Fetzen herabhängende Haut. Manche der Männer verfügen noch über erstaunlich muskulöse Leiber; manche tragen Bärte, die aber nicht zottelig wirken, sondern den Anforderungen an eine frisierte Barttracht genügen, während andere unwahrscheinlicherweise sogar rasiert beziehungsweise völlig bartlos sind. Der Kannibalismus wird nur verschlüsselt in der Vaterfigur angedeutet: Er erinnert an Dantes Grafen Ugolino, der, in einem Turm eingekerkert, sich vom Fleisch seiner toten Kinder ernährt, um zu überleben. Offensichtlich hat Géricualt dem Grauen eine ästhetische Grenze gesetzt. „Wenn die Körper in der Realität noch viel schrecklicher zugerichtet gewesen waren und der Künstler insofern hier eine Abmilderung der kruden Tatsächlichkeit vornahm, dann deshalb, weil er einen Weg finden musste, den Betrachter zu erreichen und ihm die schaurige Wahrheit dieses Überlebenskampfes vor Augen zu führen, ihn zu packen, ohne ihn jedoch vollständig abzustoßen“ (Wedekind 2014, S. 248). Tod und Verwesung vermittelt das Gemälde vorrangig durch das einheitlich fahle, grau-grüne Kolorit kranken, absterbenden Fleisches.
An der Brust des alten Mannes links im Vordergrund ist ein Orden zu sehen, das Kreuz der Ehrenlegion, der 1802 von Napoléon Bonaparte 1802 eingeführt wurde. Bruno Chenique sieht in diesem Detail einen Schlüssel zur Interpretation des Bildes, denn der Orden stehe hier für Napoléon, der Frankreich in den militärischen Untergang, in den politischen Schiffbruch gesteuert hatte. Wie Ugolino habe sich „der kannibalische Vater – dekoriert mit einem Orden, der Symbol für den kriegerischen Wahnsinn des Kaiserreiches ist – schuldig darin gemacht, die Lebenskräfte der Nation auszusaugen“ (Chenique 2009, S. 73); deren Sinnbild wiederum sei der tote Sohn. Géricaults Gemälde widmet sich nicht der Glorie der französischen Nation, was die Aufgabe der Historienmalerei wäre, sondern deren Schande: „Es bringt ein ordinäres Verbrechen, eine Tragödie ohne Helden, eine Szene physischen Leidens ohne Erlösung zur Anschauung“ (Wedekind 2014, S. 246).
Genarrte Hoffnung: die Argus nähert sich nicht, sondern verschwindet wieder
Als die Argus von den Schiffbrüchigen gesichtet wurde, brach zunächst unbeschreiblicher Jubel aus, wie Corréard und Savigny berichten. Doch aus dem Taumel der Freude versanken die Männer erneut in tiefste Niedergeschlagenheit, weil die Brigg wieder verschwand. Die Rettung erfolgte erst einige Stunden später, als die Argus nach einem Kurswechsel zufällig doch wieder in Richtung des Floßes steuerte und plötzlich in dessen Nähe auftauchte – was die Schiffbrüchigen zunächst gar nicht bemerkten, weil sie sich unter einer Art Zeltdach zum Sterben niedergelegt hatten. Mit der Minimalisierung und Entrückung des Schiffes legt Géricault allerdings die Szene daraufhin fest, dass sie nicht die bevorstehende Erettung zeigt, sondern die vergebliche Hoffnung (Wedekind 2014, S. 244). Dass dieser Moment dargestellt ist, verdeutlicht Géricault auch durch die gewaltige Woge, die sich links zu einer schwarzen Wand auftürmt: Gegen die Richtung, aus der Hilfe kommen könnte, treiben die Männer auf eine mächtige Welle zu, die das Floß im nächsten Moment zu zertrümmern droht.
Nach der Ausstellung im Pariser Salon wird das Floß der Medusa im Frühjahr 1820 nach London verschifft, wo das Bild von Juni bis Dezember in William Bullocks auf Kostbarkeiten und Kuriositäten spezialisierten London Museum zu besichtigen ist: 
40 000 Besucher kommen, von den Einnahmen gehen rund 20 000 Francs an Géricault. Der Versuch, den Erfolg in Dublin zu wiederholen, schlägt allerdings fehl. Bereits nach zwei Monaten wird die Ausstellung abgebrochen, denn Konkurrenz ist auf den Plan getreten: Das Marine Peristephic Panorama zeigt gleich sechs verschiedene Szenen der Medusa-Katastrophe, die bemalte Leinwand hat eine Fläche von insgesamt 930 Quadratmetern, und jede einzelne Ansicht wird durch passende Musikuntermalung eines vollbesetzten Orchesters begleitet. 
Im Alter von zweiunddreißig Jahren stirbt Théodore Géricault am 26. Januar 1824 an den Folgen eines Kutschenunfalls in Paris. Am 2. und 3. November desselben Jahres wird der Nachlass des Malers versteigert. Nachdem von Kunsthändlern der Vorschlag gemacht worden ist, sein riesiges Bild in handliche, zum Verkauf geeignete Stücke zu zerschneiden, erwirbt ein Freund des Verstorbenen das Gemälde. Der Preis beträgt 6005 Francs. Zehn Tage darauf ermächtigt ein Sonderdekret den Direktor der Kunstsammlungen des Louvre, das Floß der Medusa zu demselben Preis für den französischen Staat anzukaufen.
 
Literaturhinweise
Barnes, Julian: Eine Geschichte der Welt in 10½ Kapiteln. Haffmans Verlag, Zürich 1990, S. 135-166;
Chenique, Bruno: Ein kannibalisches Kaiserreich. Politische Symbole in Théodore Géricaults »Floß der Medusa«. In: IDEA – Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 2005 bis 2007. Hamburg 2009, S. 61-77  
Crary, Jonathan: Géricault, the Panorama, and Sites of Reality in the Early Nineteenth Century. In: Grey Room 9 (2002), S. 5-25;
Muhr, Stefanie: Schauer und Schaulust: Géricaults Floß der Medusa und die Konkurrenz des Panorams. In: Stefanie Muhr, Der Effekt des Realen. Die historische Genremalerei des 19. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2006, S. 89-94;   
Schings, Dietmar: Endspiel in schwerer See. Phantasmagorie des Absurden: Théodore Géricaults Bild „Das Floß der Medusa“. In: Frankfurter Rundschau, 4. Januar 2003;
Trempler, Jörg: Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013;
Wedekind, Gregor: Schiffbruch des Zuschauers. Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ als Dekonstruktion des Historienbildes. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst. Akademie Verlag, Berlin 2014, S. 235-252.

(zuletzt bearbeitet am 28. Dezember 2021)

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