Montag, 1. Dezember 2014

Grazie im Angesicht des Todes – Pontormos „Grabtragung Christi“


Jacopo da Pontormo: Grabtragung Christi (um 1528); Florenz, Santa Felicita
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Die Kirche Santa Felicita in Florenz liegt unweit des Ponte Vecchio etwas zurückgesetzt an einem kleinen Platz. Sie birgt ein Altarbild, eine Grabtragung Christi (313 x 192 cm), die als Höhepunkt manieristischer Malerei gilt und deswegen den Besuch unbedingt lohnt. 1526 erhielt Jacopo da Pontormo (1494–1557) von dem Florentiner Lodovici Capponi den Auftrag, eine kleine, von Filippo Brunelleschi entworfene Seitenkapelle von Santa Felicita mit einem Altargemälde sowie Wand- und Deckenfresken auszustatten. Sie sollte Capponi und seinen Nachkommen als Begräbniskapelle dienen.
Blick in die Cappella Capponi, gleich rechts vom Eingang gelegen
Pontormo hat die gesamte Bildfläche seiner Grabtragung Christi, die oben mit einem Rundbogen abschließt, mit einer elfköpfigen Figurengruppe gefüllt, die beinahe schwerelos in einer geheimnisvollen Helligkeit im Raum zu schweben scheint. Kühle, transparent wirkende Pastelltöne überwiegen – vor allem Rosa und Blau. Die Gestalten sind in einer strudelförmigen, lautlos wirkenden Bewegung begriffen; die Drehung der leicht überlängten Körper, die Gesten der Arme und Hände, der Faltenwurf der Gewänder – alles scheint um die Bildmitte zu kreisen. Nur eine kleine Wolke am Himmel und ein bräunlicher Erdboden deuten den Außenraum an. Dennoch „muss der Ort als steil hochragende Bodenerhebung identifiziert werden“, meint Norbert Schneider, denn nur so lasse sich die vertikale Staffelung der Figuren erklären, zumal die Position der im Zenit unterhalb des Bogens stehenden jungen Frau (Schneider 2012, S. 90).
Zwei Jünglinge tragen den Leichnam, Nikodemus und Joseph von Arimathäa sind
nicht dabei (für die Großansicht einfach anklicken)
Mitgefühl, Trauer und Verzweiflung sind an den Gestalten abzulesen. Maria in blauem Mantel gleitet in beginnender Ohnmacht unmerklich seitwärts; ihr Gesicht lässt einen „resignativen Gram“ (Schneider 2012, S. 92) erkennen, der sich nicht gegen das Schicksal ihres Sohnes auflehnt. Die Wunden des Gekreuzigten an Händen, Füßen und in der Seite sind nur angedeutet, die Dornenkrönung hat keine Spuren hinterlassen. Pontormo verzichtet auf jegliche Drastik. Stattdessen zeigt sich das Leiden Jesu in seinem Gesicht, dessen dunkel umschattete Augen und verfärbte Lippen von den erlittenen Qualen zeugen. Das ganze Bild ist von einer melancholischen Stimmung durchdrungen, zu der nicht nur die zurückgenommene Gestik der Figuren, sondern auch die irisierende Farbigkeit beitragen. Es handelt sich fast ausschließlich um changierende Mischfarben, die zu Lila, Pastellorange, grünlichem Ocker, Taubenblau und Olivtönen tendieren und überdies eine zarte Transparenz aufweisen, „ein ätherisches Leuchten, das von innen über die hauchfeinen Gewänder zu kommen scheint“ (Schneider 2012, S. 92).
Raffael: Grabtragung Christi (1507); Rom, Galleria Borghese
Immer wieder wurde die Szene als „Kreuzabnahme“ bezeichnet, vor allem wegen ihrer Vertikalausrichtung. Da aber das Kreuz selbst fehlt und ebenso eine Leiter, die bei solchen Darstellungen meist am Stamm lehnt, wird der Leichnam Jesu auf Pontormos Bild wohl von der Hinrichtungsstätte Golgatha zum Grab gebracht, ganz ähnlich wie auf Raffaels Grabtragung in der Galleria Borghese von 1507. Gegen eine Kreuzabnahme spricht auch, dass deren Hauptakteure, Nikodemus und Joseph von Arimathäa, nirgends zu sehen sind. Stattdessen haben zwei Jünglinge den Leichnam übernommen: einer, stehend, fasst Christus unter die Arme, während der andere, auf Zehenspitzen in die Knie gesunken, den Körper mit der linken Schulter auffängt. Beide blicken aus dem Bild heraus, wenden sich aber nicht wirklich dem Betrachter vor dem Altar zu. Während der halb kniende Jüngling vielleicht nach Hilfe Ausschau hält oder den zum Grab führenden Weg fixiert, spiegelt die Miene des hinteren verhaltene, nach innen gerichtete Trauer (wahrscheinlich handelt es sich um Johannes, den Lieblingsjünger Jesu, der mit Maria unter dem Kreuz stand). Als Identifikationsfigur für den Betrachter ist die in Rückenansicht wiedergegebene junge Frau gedacht, die tröstend auf Maria zueilt. Für Daniel Arasse ist die erhobene Hand Mariens eine Geste des Abschieds – Jesus ist von ihren Knien herabgeglitten und werde nun zu Grabe getragen, „das heißt zum Altar – denn diese Kreuzabnahme ist ein Altarbild, und der Altar ist die Metapher für das Grab Christi“ (Arasse 2006, S. 114).
Maria in ihrem mütterlichen Schmerz
Pontormo hat die Haltung Jesu mit dem herabgesunkenen Arm an den Typus der Pietà angenähert: Maria ist zwar etwas von ihrem toten Sohn entfernt, „doch sind ihre kaum merklich seitwärts sinkenden Beine im hellblauen Gewand so gestreckt und gewinkelt, dass es scheinen könnte, Christus habe zuvor auf ihrem Schoß geruht oder sei dort zu liegen bestimmt“ (Schneider 2012, S. 90). Jack Wasserman meint die Richtung bestimmen zu können, in der die beiden Jünglinge den Leichnam Christi tragen: Seiner Auffassung nach wenden sie nach rechts und folgen der Rückenfigur, die sich mit einem Tuch in der linken Hand Maria zuwendet. Sie bringen der Mutter also nach der Kreuzabnahme ihren toten Sohn, und das Tuch, auffällig in der Bildmitte platziert und auf gleicher Höhe wie das Haupt Christi, dient dazu, so Wasserman, eben dieses Haupt für die Grablegung zu bedecken.
Am rechten Bildrand blickt ein Mann mit wirren Locken, Bart und grünem Hut neben der Mutter Jesu schwermütig in die Ferne – es ist Pontormo selbst, der sich hier porträtiert hat. Ganz ähnlich wird sich Rembrandt 1634 in seiner Kreuzabnahme aus der Münchner Pinakothek mit im Bild darstellen.
Irisierende Farben lassen die Szene irreal wirken
Anmut und Leichtigkeit in den Bewegungen aller Figuren, ja das geradezu Tänzerische „verkörpern in einem hohen Maße das, was man in der zeitgenössischen Kunstliteratur als »grazia« beschrieben hat, mit demselben Begriff also, der auch Gottes Gnade gegenüber den Menschen kennzeichnet“ (Krystof 1998, S. 95). So ist der Körpersprache der Figuren die Bedeutung von Christi Opfertod eingeschrieben, nämlich die Heilszusage des Evangeliums: Erlösung.
Michelangelo: Tondo Doni (um 1507); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Angesichts der ungewöhnlichen Farbzusammenstellung drängt sich der Vergleich der Grabtragung Christi mit Michelangelos berühmtem Tondo Doni auf (1503/04), der eine Heilige Familie und den Johannesknaben zeigt (siehe meinen PostNimm mir mal den Kurzen ab!“). Es ist eines der wenigen erhaltenen Tafelbilder Michelangelos und kann in den Uffizien bewundert werden. Die helle Farbigkeit sowie die kunstvoll verschränkten Bewegungen von Maria, Josef und Jesuskind dienten den frühen Florentiner Manieristen (zu denen auch Pontormo gehörte) als Vorbild. Auch bei der Darstellung von Christus und Maria hat Pontormo auf Michelangelo zurückgegriffen, und zwar auf dessen Pietà in St. Peter. 
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter (für die Großansicht einfach anklicken)
Albrecht Dürer: Beweinung Christi (1511); Holzschnitt
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (1495/96); Mailand, Museum Poldi-
Pezzoli (für die Großansicht einfach anklicken)
Zudem scheint er Anregungen aus der Druckgrafik Albrecht Dürers verarbeitet zu haben, vor allem der Beweinung Christi aus der Großen Passion, einem Holzschnitt-Zyklus von 1511. Dafür sprechen einige ähnliche Physiognomien und Übereinstimmungen in der Bildanlage: In beiden Werken gipfelt die Figurenkomposition in einer vergleichbaren, erhöhten Frauengestalt. Ein mögliches Vorbild für Pontormo könnte auch Sandro Botticellis Beweinung Christi von 1495/96 gewesen sein, das sich heute in Mailand befindet (siehe auch meinen Post „Trauer und Erhebung“). So umfasst bei Botticelli wie bei Pontormo eine der Frauen hinter dem Leichnam mit ihren Händen den Kopf Christi, um ihn dem Betrachter zu präsentieren.
Wie Raffael in seiner Grabtragung Christi betont auch Pontormo das Gewicht des Leichnams. Dabei orientiert er sich an einem antiken Meleager-Relief. Zweifellos geht seine Figur des unter der Last in die Knie gesunkenen Trägers auf eine ähnliche Gestalt auf vielen Meleager-Sarkophagen zurück, die ebenfalls die Beine des Toten geschultert hat. Bei dem im Hof des römischen Palazzo Mattei eingemauerten Exemplar weist die entsprechende Figur eine frappierende Ähnlichkeit mit der von Pontomo auf.
Jacopo da Pontormo: Verkündigung (um 1528); Florenz, Santa Felicita/Cappella Capponi
Erzengel Gabriel rauscht heran (für die Großansicht einfach anklicken)
Drei Jahre lang ließ Pontormo die Kapelle für Besucher sperren – nur sein Adoptivsohn Agnolo Bronzino, ebenfalls Maler, durfte zu ihm. Aus der Capponi-Kapelle wurde in dieser Zeit ein Gesamtkunstwerk: Auf die Wand rechts neben dem Altarbild, die durch ein Fenster und ein Stifter-Porträt zweigeteilt ist, malte er eine Verkündigung: Maria, die sich von ihrem Lesepult umwendet, nimmt die Botschaft des heranschwebenden Erzengels Gabriel auf, dessen stoffreiches Gewand sich durch die Flugbewegung aufgebauscht hat. Die Kuppel dekorierte Pontormo mit Fresken von Gottvater und vier Patriarchen; die vier Zwickel des Gewölbes schmücken Porträts der mit Schreibfedern ausgestatteten Evangelisten Johannes, Lukas, Markus und Matthäus – die beiden letzten stammen von Bronzino. Das Fresko der Deckenrotunde fiel 1565 dem Umbau der Kirche zur Hofkapelle der Medici zum Opfer: Ein Geheimgang, der den Palazzo Vecchio mit dem Palazzo Pitti auf dem rechten Arno-Ufer verbindet (der berühmte, noch heute existierende „Vasari-Korridor“), führt in Höhe des oberen Geschosses durch Santa Felicita, und deswegen musste die Kapellenkuppel abgeflacht werden. 
Mit einer starken Neigung nach vorne scheint sich der Evangelist Johannes geradezu aus dem Bild zu lehnen;
auf sein Attribut, den Adler, hat Pontormo verzichtet
Der Evangelist Lukas ist in starker Untersicht dargestellt;
rechts neben ihm ist der Kopf seines Symboltiers zu erkennen, ein Stier

Literaturhinweise
Arasse, Daniel: Für eine kurze Geschichte des Manierismus. In: Daniel Arasse, Meine Begegnungen mit Leonardo, Raffael und Co. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, S. 11-118;
Brassat, Wolfgang: Rhetorische Merkmale und Verfahren in Darstellungen der Grablegung Christi von Mantegna, Raffael, Pontormo und Caravaggio. Zur Analogisierung und Ausdifferenzierung von Rhetorik und Malerei in der Frühen Neuzeit. In: Joachim Knape (Hrsg.), Bildrhetorik. Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 2007, S. 285-346; 
Braunschweig-Kühl, Ilka: Konzepte des Metaphysischen. Pontormos Altartafeln in Santa Felicità [sic] in Florenz, in San Michele in Carmignano und die SantAnna-Tafel im Louvre. Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2006;
Krystof, Doris: Jacopo Carrucci, genannt Pontormo. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998; 
Maurer, Emil: Zum Kolorit von Pontormos „Deposizione. In: Emil Maurer, Manierismus. Figura serpentinata und andere Figurenideale. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 177-186; 
Nigro, Salvatore S.: Pontormo. Il Libro mio/Zeichungen/Fresken/Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1996;
Saalman, Howard: Form and meaning at the Barbadori-Capponi Chapel in S. Felicita. In: The Burlington Magazine 131 (1989), S. 532-539; 
Schneider, Norbert: Die antiklassische Kunst. Malerei des Manierismus in Italien. LIT Verlag, Berlin/Münster 2012, S. 89-94;
Shearman, John: Pontormos altarpiece in S. Felicita. University of Newcastle upon Tyne, 1971;
Shearman, John: Only Connect … Art and the Spectator in the Italian Renaissance. Princeton University Press, Princeton 1992, S. 87-94;
Waldman, Louis Alexander: New Light on the Capponi Chapel in S. Felicita. In: The Art Bulletin 84 (2002), S. 293-314;
Wasserman, Jack: Pontormo in the Capponi Chapel in Santa Felicita. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 53 (2009), S. 35-72. 

(zuletzt bearbeitet am 11. September 2022)

1 Kommentar:

  1. Die bisher vernünftigste Zusammenfassung zu diesem Meisterwerk, das ich seit 10 Jahren immer als Print bei mir trage!

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