Montag, 27. Oktober 2014

Der kirchenkritische Michelangelo


Der obere Teil von Michelangelos Jüngstem Gericht (für die Großansicht einfach anklicken)
„Mir tut es weh, so konservativ bin ich, wenn die Kunst vergewaltigt wird, nur weil die Kirche Geld braucht und fünf Millionen Besucher im Jahr. Im Gedränge, Mief und Stimmengewirr ist keine Kontemplation möglich, nicht einmal das Erfassen einfachster Details. Man müsste in Ruhe den ganzen Gegensatz erklären, der in den Reiseführern verschwiegen wird: Michelangelo bezeugt hier seine kirchenkritische Haltung, statt braver Apostel mit Heiligenschein, die man von ihm erwartete, malte er Propheten und mythische Figuren. Schauen Sie bitte auf Maria, müsste ich flüstern oder schreien, die sich von den hilfesuchenden Menschen abwendet und fast ängstlich auf Christus verweist. Und Petrus bietet ihm die Schlüssel an, der Stellvertreter ist nicht mehr nötig, jedenfalls am Jüngsten Tag. Bitte, meine Damen und Herren, müsste ich rufen, sehen Sie sich die Hölle an, diese Hölle dient nicht der üblichen Angstpropaganda, erstens ist sie relativ klein, zweitens dürfen viele der Höllenkandidaten noch ringen und auf Rettung hoffen, nichts da von augustinischer Erbsündenverdammung, nichts da von Höllenzukunft für die, die den Päpsten nicht gehorchen. So hat mir das einst ein ranghoher Katholik erklärt, Michelangelo als Anhänger früher reformatorischer Ideen, der auf der berühmten Altarwand seine Kritik der Kirche ausmalt, das Ende des Papsttums, des Marienkults und der Sündendrohung. Der Künstler, meine Damen und Herren, hat es nie verschmerzt, das sein beste Freundin, die Gräfin und Dichterin Vittoria Colonna, wegen, vereinfacht gesagt, reformatorischer, vorprotestantischer Ansichten aus Rom verbannt und als Ketzerin bezeichnet wurde, beide inspiriert von später verbotenen sogenannten ketzerischen Schriften. Michelangelo konnte man nicht verbannen. Schauen Sie in San Pietro in Vincoli den Moses einmal richtig an, wie trotzig der den Kopf vom Aberglauben der Petersketten wegdreht. So triumphiert die Kunst über die Dogmen, das ist auch eine frohe Botschaft, meine Damen und Herren. Die Ironie des Weltgerichts, der größte und schönste der römischen Widersprüche: ein beinahe Ketzer schenkt dem Papsttum eine seit fünfhundert Jahren funktionierende Goldgrube! und ein perfektes Logo als Zugabe, die Kuppel des Petersdoms.“

Aus: „Die linke Hand des Papstes“ von Friedrich Christian Delius, S. 68/69 (Berlin Verlag, Berlin 2013)

Montag, 6. Oktober 2014

Allein in Paris – Gustave Caillebotte flaniert mit uns in der französischen Metropole


Gustave Caillebotte: Rue de Paris, temps de pluie (1877); Chicago, The Art Institute of Chicago
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Eine belebte Pariser Straßenkreuzung an einem grauen regnerischen Tag: Auf dem Gehsteig rechts kommt unter einem großes Regenschirm ein elegant gekleidetes Paar auf uns zu; die Nähe der beiden Figuren wird noch dadurch gesteigert, dass sie vom unteren Bildrand überschnitten sind. Ihre Aufmerksamkeit ist abgelenkt, Mann und Frau blicken nach links auf etwas, das außerhalb des Bildfeldes liegt; deswegen scheinen sie den entgegenkommenden, stark angeschnittenen Passanten ganz rechts nicht wahrzunehmen. Um den drohenden Zusammenstoß zu vermeiden, hält dieser seinen Regenschim bereits vorsorglich schräg. Da wir uns als Betrachter mit dem Paar auf gleicher Augenhöhe befinden, entsteht der Eindruck, als seien wir selbst auf dem Gehweg unterwegs und würden einander begegnen. Diese Illusion wird auch dadurch unterstützt, dass die beiden Flaneure fast lebensgroß dargestellt sind und das Bildformat entsprechend ausfällt: 212 x 276 cm misst Gustave Caillebottes Gemälde Rue de Paris, temps de pluie von 1877.
Diese Aufnahme kann einen Eindruck von den Bildmaßen vermitteln – das lebensgroße Paar im Vordergrund scheint direkt auf den Betrachter zuzukommen (für die Großansicht einfach anklicken)
Nach oben und zur Bildtiefe hin wird die Szene durch die beiden Regenschirme abgeschlossen, die dem Betrachter weitgehend den Blick versperren; die beengte Situation rechts kontrastiert mit dem weiten Straßenraum in der linken Bildhälfte. Dort nimmt vor allem das Pflaster den offenen Vordergrund ein; die leicht aufgewölbten Steine, zwischen denen sich das Wasser sammelt, werden dabei der glatten, spiegelnden Oberfläche des Gehwegs rechts gegenübergestellt. Nur vereinzelt überqueren Passanten die Kreuzung im Mittelgrund, der Fahrverkehr beschränkt sich auf zwei stark überschnitten gezeigte Kutschen. Im Hintergrund sind vor den Hausfassaden in kleinerem Format deutlich Passanten zu sehen – erst sie vermitteln dem Betrachter den Eindruck städtischer Betriebsamkeit. Die kühle Feuchtigkeit des regnerischen Tages überträgt sich in der graublauen Atmosphäre, die die ganze Szene durchdringt. Sie wird nur durch wenige Farbakzente belebt.
Allein zu zweit in den Straßen von Paris
Die Nähe des vor uns aufragenden Paares ist geradezu bedrängend – und dennoch nehmen die beiden keinerlei Verbindung zu uns auf. Auch die anderen Figuren machen einen „abwesenden“, auf sich selbst bezogenen Eindruck. Vom Betrachter abgewandt oder im Profil dargestellt, sind die in verschiedene Richtungen gehenden Einzelpersonen oder Zweiergruppen zudem durch weiten Raum voneinander abgesetzt. Die feucht schimmernden Regenschirme, die die Figuren überfangen, betonen ihre Isolation noch. „Als anonym bleibende Andere angesehen (...), wird ihre Gleichartigkeit nicht nur durch diese sich rhythmisch wiederholenden Schirme, sondern auch durch die einheitlich dunkle Kleidung übersteigert“ (Frey 1999, S. 165). Auch das Paar im Vordergrund bildet hier nicht wirklich eine Ausnahme: Obwohl sich die Dame bei dem Herrn eingehängt hat und beide unter einem Schirm zusammengefasst sind, wirken sie jeweils ganz in ihre eigenen Wahrnehmungen versunken.
Den gleichförmigen Figuren entspricht die einheitliche Farbstimmung des Gemäldes – vor allem aber entspricht ihnen die äußerst geordnete architektonische Umgebung: die regelmäßigen Quader des Pflasters, die sternförmig ausstrahlenden Straßen, die sich weit in die Tiefe ziehenden Gebäudeblöcke mit ihren durchlaufenden Balkonen und der starren Abfolge ihrer Fenster und Schornsteine. Caillebotte verzichtet auch darauf, bekannte bzw. erkennbare Pariser Bauwerke abzubilden – die Örtlichkeit ist so allgemein gehalten wie der Titel des Bildes, ebenso fehlt alles Anekdotische. Der Blick auf eine Straßenkreuzung wird hier „zur Darstellung der menschlichen Existenz in der modernen Stadt schlechthin“ (Frey 1999, S. 166).
Caillebotte hat für sein Gemälde eine Reihe von vorbereitenden Skizzen und Studien angefertigt – sein Bild ist sehr sorgfältig durchkomponiert. Während die grüne Straßenlaterne zusammen mit ihrer Reflektion auf dem Pflaster die Bildfläche vertikal halbiert, dient der auf etwa halber Höhe verlaufende Horizont dazu, die Leinwand auch waagerecht zu unterteilen und damit zu vierteln. „Zusammen mit der stabilen Viertelung der Bildfläche gleicht dieses sich wiederholende Regelmaß der Bildelemente eine sich aus der Asymmetrie der Personenverteilung und der Spannung von Nah und Fern entwickelnde Dynamik aus“ (Frey 1999, S. 165).
Trotz dieser genau überlegten Verteilung der Bildelemente erfasst Caillebotte überzeugend das Augenblickliche dieser Alltagsszene. Durch die angeschnittenen Figuren wirkt sein Gemälde wie eine Momentaufnahme aus dem modernen Pariser Straßenleben, der Fotografie verwandt. Überhaupt verwendet Caillebotte fotografische Stilmittel noch weitgehender als jene Malerkollegen, die sich von der neuen Bildkunst ebenfalls inspirieren lassen (wie z. B. Edgar Degas). So hat er mit Hilfe von fotografischem Anschauungsmaterial in Rue des Paris, temps de pluie präzise optische Phänomene wie den Weitwinkel genutzt, um den Vordergrund auszuweiten und zu vergrößern und den Hintergrund zu verkleinern. Solche verzerrenden Effekte waren in den 1860er Jahren durch die Erfindung neuer Linsen möglich, wurden jedoch vor allem dokumentarisch und nicht künstlerisch eingesetzt. Durch seinen Bruder Martial, einen engagierten Amateurfotografen, war Caillebotte mit den Prozessen und Möglichkeiten des neuen Mediums vertraut.
Eines der vielen Pariser Haussmann-Appartement-Häuser, die  bis heute das Stadtbild prägen
Caillebotte zeigt uns eine Pariser Straßenszene nach der radikalen Stadtumgestaltung, die 1853 unter Georges-Eugène Haussmann, dem Präfekten Kaiser Napoléons III., eingesetzt hatte. Sie brachte ein völlig verändertes Stadtbild hervor. Zu den einschneidendsten Veränderungen dieser sogenannten Haussmannisierung, die bis Anfang der 1870er Jahre dauerte, gehörte der Abbruch großer Teile der mitelalterlichen Stadtviertel. Am stärksten betroffen waren das Zentrum und die Bereiche rechts der Seine im Nordwesten der Stadt, wo auch Caillebottes Familie seit 1868 wohnte. Der Maler „sah die neue Stadt wachsen, beobachtete, wie die engen und verwinkelten Gassen durch weiträumige Plätze, breite Verkehrsstraßen und große Boulevards ersetzt wurden, und erlebte, wie Paris durch das neue Straßennetz mit repräsentativen Gebäuden in Blockbauweise und einem neuartigen einheitlichen urbanen Mobiliar sowie Park- und Grünanlagen nicht nur zur vorbildhaften europäischen Metropole, sondern zum »Weltwunder« wurde“ (Sagner 2009, S. 21/22). 
Auf Caillebottes Gemälde schiebt sich die Eckfront eines an zwei Straßen verlaufenden Gebäudekomplexes wie ein Schiffsbug ins Bild, der exemplarisch die vereinheitlichende neue Stadtbebauung vor Augen führt. Auf befestigten, sicheren und breiten Gehwegen, einer absoluten Neuerung unter Haussmann, konnten die Passanten selbst bei Regenwetter ungefährdet flanieren. Das Pflaster, dem Caillebotte in seinem Gemälde große Aufmerksamkeit schenkt, erlaubte es den Fußgängern, die großen und von Kutschen befahrenen Boulevards rasch zu überqueren.
Caillebottes Gemälde lässt uns spüren, wie ambivalent der Maler diese neue Stadtgeometrie empfunden haben muss: Die Stadt erscheint auf seinem Bild als vollkommen konstruierter, gleichgeschalteter Raum mit weiten und tiefen Blickfluchten sowie extremen Trichterperspektiven. Gezeigt werden nicht nur die modernen Materialien wie Stein, Pflaster und Gusseisen, sondern auch die Uniformität der typischen neuen Mietshäuser. „Dem einzelnen Haus kam im Stadtkonzept seiner Zeit ebenso wenig Bedeutung zu wie dem einzelnen Menschen: Anonymität beherrschte die Realität“ (Sagner 2010, S. 28). Es ist diese Stimmung der Vereinzelung, die Caillebottes Straßenszene durchzieht: Die Figuren wirken verloren in einem sich gewaltig ausdehnenden, monotonen Stadtraum.
Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873); Moskau, Puschkin-Museum
Rue de Paris, temps de pluie wurde in der dritten Pariser Impressionisten-Austellung 1877 gezeigt und erregte große Bewunderung. Es gehört zu einer Gruppe von etwa fünfzig Paris-Ansichten Caillebottes, die zwischen 1875 und 1880 entstanden sind. Mit Sicherheit hatte Caillebotte die erste Impressionisten-Ausstellung 1874 besucht und dort auch Claude Monets 1873 gemalten Boulevard des Capucines gesehen, ein Bild, das mit der neuen impressionistischen Maltechnik das verwandelte Paris wiedergab. Caillebotte blieb davon nicht unberührt: Der veränderte Stadtraum, die breite Straße, wurde als neuartiges künstlerisches Thema entdeckt. Als sich Caillebotte diesem Sujet zuwandte, entwickelt er dabei seine eigenwillige, kühne Bildästhetik, mit der er sich eine einzigartige Position zwischen Realismus und Impressionismus sicherte.
Nach 1880 verlor Caillebotte das Interesse am Thema Stadt – er verlagerte seinen Wohnsitz nach Petit Gennevilliers, einem kleinen Ort an der Seine, wo seine weiteren Werke deutlich impressionistischer wurden. Als Caillebotte 1894 mit nur 45 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls starb, hatte er fast 500 Bilder  geschaffen.

Literaturhinweise
Forgione, Nancy: Everyday Life in Motion: The Art of Walking in Late-Nineteenth-Century Paris. In: The Art Bulletin 87 (2005), S. 664-687;
Frey, Andrea: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860–1890. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1999, S. 163-172;
Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2009.

(zuletzt bearbeitet am 30. August 2020)