Montag, 17. April 2023

Regen, Dampf und Geschwindigkeit – William Turner malt die Great Western Railway


William Turner: Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Great Western Railway (1844); London, National Gallery
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William Turner (1775–1851) zählt ohne Frage zu den Wegbereitern der modernen Malerei. Der britische Künstler gilt als der Maler des Lichts und der Farbe, als derjenige unter seinen Zeitgenossen, der die Formauflösung in seinen Bildern am weitesten vorangetrieben hat. Sein wohl berühmtestes Gemälde trägt den Titel Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Great Western Railway. Mit dem 1844 in der Londoner Royal Academy ausgestellten Bild wurde die Eisenbahn als der populärsten technischen Errungenschaft des Industriezeitalters erstmals „bildwürdig“.
Durch den verhangenen Horizont des Bildes schießt exakt aus dem Fluchtpunkt, der zugleich dem Bildzentrum entspricht, auf einer Brücke ein fahrender Zug über einen Fluss hinweg auf die rechte vordere Bildecke zu. Die Bahntrasse mit dem Schienenstrang durchmisst das Bildfeld auf der Diagonalachse nach rechts unten, sodass der Eindruck entsteht, der Zug werde gleich über den Rand hinausfahren.
Die Konturen des Zugs sind verschwommen, nur der Schornstein über dem Dampfkessel der Lokomotive hebt sich präzise von der diffusen Umgebung ab. Die Landschaft ist so undeutlich dargestellt, dass sich das Flusstal mit einer zweiten Brücke und das jenseitige Ufer nur vage ausmachen lassen. Das erklärt sich zum einen durch den Regen, der sich in den schräg verlaufenden Schlieren des Vordergrundes bemerkbar macht; zum anderen „übertrug Turner offensichtlich das von Zeitgenossen ebenso wie von ihm selbst beschriebene neuartige Seherlebnis aus einer rasch fahrenden Eisenbahn heraus auf den Anblick des fahrenden Zuges“ (Wagner 2011a, S. 91/92). Anlässlich der Ausstellung des Bildes meinte die Times (8. Mai 1844), dass es erstmals in der Geschichte der Malerei gelungen sei, „den Betrachter mit einer Lokomotive und einem Zug zu konfrontieren, der mit einer Geschwindigkeit von 50 Meilen die Stunde auf ihn zurast“. Die Eisenbahnlinie der Great Western galt als Höhepunkt englischer Ingenieurskunst und wurde im ganzen Land gefeiert. Seit 1841 verband sie London mit Bristol und war 1843, im Jahr vor der Ausstellung des Gemäldes, von Queen Victoria durch ihre erste Eisenbahnfahrt geadelt worden.
Dieses Wunderwerk der Technik, die Eisenbahn mitsamt ihren Brücken, stellt Turner jedoch nicht in deutlich erkennbaren Formen porträthaft vor. Vielmehr sind Regen, Dampf und Geschwindigkeit zum eigentlichen Bildgegenstand geworden. Regen und Dampf, zwei Zustände des Wassers also, werden ebenso wie die Wolken des Himmels vom Licht der nicht sichtbaren Sonne durchdrungen; der Fluss wiederum reflektiert das Licht, das alle Bereiche zu verbinden scheint. Die verschiedenartige Materialität der Dinge wirkt zugunsten ihrer flüchtigen Erscheinung aufgehoben. „Nur die Bearbeitungsspuren der Farbmaterie markieren die unterschiedlichen Bereiche von Himmel, Land und Wasser. Sie erscheinen wie verschiedene Zustände derselben Substanz“ (Wagner 2011a, S. 97). Dem entspricht die Farbigkeit, deren gelblich-braun-ocker oszillierende Oberfläche sehr zum Eindruck eines ungreifbaren, flüchtigen Zustands beitragen.
Da Turner die Farben seiner Bilder stark mit Öl durchsetzt, trocknen sie nur langsam, bleiben für den Malprozess feucht, sodass er weitere Farben bzw. Lasuren eintragen kann, die sich mit dem bereits Angelegten mischen. So entsteht ein verwischter Farbkörper, der Übergänge verschleift, Formen nicht wirklich fixiert. „Das erklärt das skizzenhafte Erscheinungsbild, das in vielen Fällen ein Äquivalent zu extremer Bewegung, zum Transitorischen oder zu transformatorischen Vorgängen darstellt“ (Busch 2020, S. 51).
Die Lokomotive – das Farbzentrum des Bildes
Turner hat das Innenleben der Lokomotive – die Fusion von Wasser und Feuer, durch die im Innern Dampf erzeugt wird – an der Oberfläche sichtbar gemacht: Mit dem Spachtelmesser aufgetragen, stehen sich auf der schwarzen Außenhaut des eisernen Dampfkessels pastoses Weiß und leuchtendes Rot auf engstem Raum gegenüber. „Die im Dampfkessel verborgene Erzeugung der Antriebskraft erscheint als das dynamisch funkelnde Farbzentrum des Bildes“ (Wagner 2011a, S. 100).
Mühselige Fortbewegung: mit dem Boot über die Themse

Turner unterstreicht den Triumph der Technik, indem er auf seinem Bild der dampfgetriebenen Eisenbahn eine frühere Fortbewegungsart gegenüberstellt. Während die Eisenbahn auf horizontaler Ebene über das Flusstal hinwegrast, sind auf der linken Seite mehrere Personen im Begriff, in einem winzigen Ruderboot die Themse zu überqueren. Um die Unannehmlichkeiten einer solch altmodischen Reiseart im englischen Wetter vorzuführen, hat Turner die hintere Figur im Boot mit einem aufgespannten Regenschirm ausgestattet ... Nicht weit davon ist am Ufer eine Reihe von kleinen menschlichen Figuren auszumachen, zum Teil mit erhobenen Armen, voller Erstaunen und vielleicht auch erschrocken dem rasenden Zug auf der Brücke zugewandt. Rechts der Trasse ganz am Bildrand wird ein Pflug mit zwei vorgespannten Pfeden von einem Bauern über das Feld geführt. Die Vermutung liegt nahe, dass Turner mit diesen Details demonstrieren wollte, dass das Zeitalter des Pfluges und auch des Ruderbootes vorbei ist. Denn gerade auf Flüssen setzte sich schnell das Steam-Boat durch. Pferde- und Menschenkraft werden durch die Dampfmaschine abgelöst.

Darüber hinaus rennt, ja fliegt geradezu – heute kaum mehr sichtbar, weil flüchtig als oberste Schicht gemalt – auf dem Schienenstrang vor der Lokomotive ein Hase her, die Läufe weit von sich gestreckt. Ohne Zweifel wird das Tier trotz seiner Schnelligkeit in den nächsten Sekunden von dem Zug überrollt werden. Ob man an diesem weiteren Detail ein Zeichen von Industriekritik ablesen kann, sei dahingestellt – das Gemälde ist doch eher vom Stolz auf die beeindruckende technische Neuerung bestimmt. Turner erweist sich im Gegensatz z. B. zu den englischen Präraffaeliten oder den deutschen Nazarenern als eminent moderner Maler mit großem Interesse an der Dynamik industrieller Entwicklungen in England.

Obwohl Turners Bilder oft heftig kritisiert wurden – sie galten als unfertig, als bloße Farbsoße, man meinte, nichts erkennen zu können –, war seine Malerei sehr erfolgreich: Bereits 1802 wurde er als Vollmitglied in die Royal Academy aufgenommen und übernahm dort sofort eine Reihe von Funktionen. 1804 gehörte er dem Rat der Akademie an, Aufträge häuften sich, im selben Jahr eröffnete er eine Privatgalerie, 1807 wurde er zum Professor für Perspektive gewählt, ein Amt, das er 35 Jahre innehatte. Bis zu seinem Tod 1851 war der Maler mit wenigen Ausnahmen in den Jahresausstellungen der Royal Academy mit seinen jeweils neuesten Arbeiten vertreten, die häufig Anlass zu Kontroversen gaben.
 
Literaturhinweise
Busch, Werner: Turner und Constable als künstlerische Antipoden. Zur Topik des Klassischen und des Unklassischen. In: Werner Busch, Das unklassische Bild. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 190-209;
Busch, Werner: Willam Turners Rain, Steam, and Speed. Der Tod des Hasen, das Ende des Pflugs und der Glanz der Industrie. In: Sandra Abend/Hans Körner (Hrsg.), Schlüsselbilder. morisel Verlag, München 2020, S. 42-61;
Carter, Ina: Rain, Steam and What? In: The Oxford Art Journal 20 (1997), S. 3-12; 
Finley, Gerald: Turner and the Steam Revolution. In. Gazette des Beaux-Arts 112 (1988), S. 19-30;
Olson, Donald W./Sinclair, Rolf M.: The origin of Rain, steam, and speed by JMW Turner (1775–1851). In: The British Art Journal 19 (2018), S. 42-47;
Wagner, Monika: William Turner. Verlag C.H. Beck. München 2011a;
Wagner, Monika: Zur Fusion der Elemente in Turners Malerei. In: Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hrsg.), William Turner. Maler der Elemente. Verlag Hirmer, München 2011b, S. 65-73.

(zuletzt bearbeitet am 17. April 2023) 

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