Mittwoch, 30. Dezember 2015

„Meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ – Rembrandts „Darbringung im Tempel“


Rembrandt: Darbringung im Tempel (1627/28); Hamburg, Kunsthalle
Die Darbringung im Tempel von 1627/28 gehört zu Rembrandts frühen Meisterwerken, die in seiner Leidener Zeit (1625–1630) entstanden sind, bevor er 1631 nach Amsterdam übersiedelte. Dargestellt ist eine im Lukas-Evangelium geschilderte Begebenheit: Josef und Maria bringen ihren Erstgeborenen nach Jerusalem, um ihn – dem jüdischen Gesetz folgend – Gott zu präsentieren und durch eine Opfergabe auszulösen (Lukas 2,22-39). Hier begegnen sie dem alten, gottesfürchtigen Simeon, dem vorhergesagt worden war, er werde erst sterben, wenn er den Messias gesehen habe. Simeon erkennt in dem Kind den Erlöser, nimmt ihn in seine Arme, spricht ein Dankgebet zu Gott und segnet die Eltern. Auch die hochbetagte Prophetin Hanna preist Gott beim Anblick des Messias.
Rembrandt verdichtet die Erzählung in seinem Bild und fasst zusammen, was eigentlich nacheinander geschieht: Simeon richtet seine prophetischen Worte an die Eltern, während gleichzeitig Hanna angesichts des Neugeborenen Gott zu preisen beginnt. Das alles ereignet sich jedoch nicht, wie bislang in der Bildtradition üblich, vor dem Hochaltar, sondern in einem eher abgelegenen Winkel der Synagoge. Außer den fünf ausdrücklich im Bibeltext genannten Personen ist niemand anwesend. Simeon und das Elternpaar knien sich gegenüber, der Greis hält das Kind im Arm, und mit begütigender Geste richtet er seine Worte an die erschrockene, überwältigte Maria. Von hinten ist Hanna herangetreten, um mit erhobenen Händen die Heilsbotschaft Simeons zu bekräftigen. Josef ist als dunkle Repoussoirfigur im verlorenen Profil dargestellt; er hat die beiden Opfertauben auf dem Boden abgesetzt (sie sind heute nicht mehr zu erkennen), um seine Hände unter dem abgenommenen Hut zum Gebet zu falten. Die Stimmung des Bildes ist daher zum einen geprägt von einer andächtigen, intimen Frömmigkeit, zum anderen durch die extrovertierte Pathosgeste Hannas.
Theologisch interessant ist die „Eliminierung von Priester, Altar und Ritus“ (Keller 1979, S. 97) auf Rembrandts Gemälde. Kunsthistoriker sehen darin eine Stellungnahme des Künstlers: gegen die Amtskirche bzw. eine von Priestern abhängige Gnadenvermittlung und für eine unmittelbare Gottesbegegnung, die sich auf den wörtlichen Bibeltext berufen kann.
Marcantonio Raimondi: Die Jungfrau an der Wiege; Kupferstich nach Raffael
Für die Figur der Hanna, die mit ihren erhobenen Armen dargestellt wird, hat sich Rembrandt möglicherweise an einen Kupferstich von Marcantonio Raimondi (1480–1534) angelehnt. Martin Warnke hat allerdings darauf hingewiesen, dass ihre Gestik auch von Orantenfiguren auf altchristlichen Mosaiken übernommen sein könnte. Wie dort die Gestalten oft vor einem Goldgrund stehen, sei Hanna auf Rembrandts Gemälde vor hellgelbes Licht gestellt. Rembrandt aktiviere damit eine alte Formel, um den „urchristlichen Geist gegen eine in dogmatische Zwiste verstrickte Kirche in Erinnerung zu bringen“ (Warnke 1986, S. 40).
Hl. Apollinaris (6. Jh.); Mosaik aus S. Apollinare in Classe bei Ravenna
Das blendend hell von links oben in den dunklen Tempelraum einfallende Licht ist sicherlich ein Effekt, der auf die Utrechter Caravaggisten wie Gerrit van Honthorst oder Dirck van Baburen zurückgeht. Aber Rembrandts Lichtregie hat auch inhaltliche Bedeutung: So spricht Simeon in seinem Lobpreis an Gott davon, der neugeborene Heiland sei „ein Licht, zu erleuchten die Heiden“ (Lukas 2,23; LUT). Allerdings ist nicht das Jesuskind selbst die die Lichtquelle; es bricht deutlich als Naturlicht von einem Fenster ein, dessen Gitter als Schatten auf die gekalkte Wand fallen. Dabei erleuchtet es den Raum so heftig, „daß die Lichtzone um das Christuskind mit dem zart flackernden Heiligenschein eher als sekundäres Reflexlicht wirkt“ (Warnke 1986, S. 41). Von der wuchtigen Säulentrommel ragt eine Halterung nach rechts in den dunklen Innenraum: Die einsame Kerze darauf ist erloschen und könnte den Alten Bund symbolisieren, der mit der Geburt Jesu ihr Ende findet. Die Zeit des Gesetzes ist von der Zeit der Gnade und des Glaubens abgelöst worden. 
In den besonders hellen Partien des Bildes – wie dem Christuskind, der Kleidung von Simeon sowie der vom Sonnenlicht beschienenen Teile der Mauer und der Säule im Hintergrund – finden sich die dicksten Farbschichten, während in den verschatteten Bereichen die Farbe viel dünner und gleichmäßiger aufgetragen wurde. In der hell aufleuchtenden Wand deuten Variationen von Braun, Gelb und Grau Feuchtigkeitsflecken und andere Unregelmäßigkeiten an – Rembrandt gelingt es auf diese Weise, den optischen Effekt einer verputzten Mauer zu erzeugen.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie
Rembrandt: Petrus und Paulus im Gespräch (1628); Melbourne, The National Gallery of Victoria
Rembrandts Darbringung im Tempel weist große kompositorische Übereinstimmungen mit seinem etwa zeitgleich entstandenen Paulus im Gefängnis auf (1627): Auch hier fällt das Licht von links durch ein nicht gezeigtes Sprossenfenster auf eine Wandzone mit wuchtiger Säule, vor der sich der Apostel markant abhebt. Der Bildteil rechts von ihm mit einer Holztür bleibt ebenfalls im Schatten. Rembrandts Gemälde Petrus und Paulus im Gespräch von 1628 zeigt vorne links eine Figur, die in vergleichbarer Weise wie Josef in der Darbringung im Tempel als Repoussoir fungiert, allerdings wesentlich schärfer konturiert. Die kniende Gestalt des Josef ist außerdem eng mit einer Hieronymus-Radierung verwandt, die im gleichen Zeitraum wie das Hamburger Gemälde entstanden sein dürfte.
Rembrandt. Der kniende Hieronymus im Gebet (um 1627/28); Radierung
Rembrandt: Lobpreis Simeons (1630); Radierung (für die Großansicht anklicken)
1630 hat Rembrandt das Thema der Darbringung nochmals in einer Radierung wiedergegeben, in einer eng verwandten Komposition: Die Figuren sind jetzt wie auf einer Drehbühne um eine imaginäre Achse gedreht. Simeon ist mit dem gleichen Gestus nahezu von vorne zu sehen. Maria nimmt als Rückenfigur die Position Josefs ein, der am äußersten rechten Rand kniet; auch die stehende Figur der Hanna, mit geändertem Spiel der Hände, wurde gedreht, ein Engel weist sie mit ausgestrecktem Arm auf den neugeborenen Erlöser hin. Auch in der Radierung ragt im Rücken der Gruppe eine wuchtige, durch ein Band verzierte Säule hoch auf; allerdings gibt Rembrandt nun im Hintergrund einen Einblick in die übrige Tempelarchitektur.

Glossar

Repoussoirfiguren sind Gestalten im Vordergrund eines Gemäldes, die die Funktion haben, den Blick des Betrachters in die Tiefe zu ziehen. Sie werden deswegen häufig von hinten dargestellt.

Das verlorene Profil ist eine Ansicht von hinten, bei der nur noch die Konturen der Wangenknochen zu sehen sind; das Gesicht dreht sich in die Bildtiefe hinein.

Der Orantengestus ist eine Körperhaltung beim Gebet: Der Beter steht dabei mit in Schulterhöhe ausgebreiteten Armen, den Kopf entweder gesenkt oder zum Himmel erhoben.

 

Literaturhinweise
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 246;
Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112;
Ketelsen, Thomas (Hrsg.): Rembrandt, oder nicht? Hamburger Kunsthalle. Die Gemälde. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2000, S. 25-28 und 42;
van den Boogert, Bob: Rembrandt Harmensz. van Rijn – Simeon im Tempel, um 1627/28. In: Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg (Hrsg.), Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001, S. 214-217;
Warnke, Martin: Zur Herkunft und zur Deutung der »Lobpreisung Simeons« von Rembrandt in der Kunsthalle. In: IDEA. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle V (1986), S. 33-45;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 16. März 2024)

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