Montag, 19. Dezember 2016

Schmuckloses Abendmahl – Albrecht Dürers Passionsholzschnitt von 1523


Albrecht Dürer: Abendmahl (1523); Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
In den Jahren 1496 bis 1500 schuf Albrecht Dürer (14711428) eine Gruppe von sieben Holzschnitten mit Passionsszenen, die er als Einzeldrucke vertrieb. Diese Blätter ergänzte der Nürnberger Meister 1510 um vier weitere Darstellungen. Mit einem Titelblatt und einem lateinischen Text versehen, wurde die Folge 1511 als Buch publiziert – wir kennen sie heute als Dürers Große Passion. In dieser Zeit entstanden auch die 57 Holzschnitte der Kleinen Passion. Dürers letzter Holzschnitt zur Leidensgeschichte Jesu, das querformatige Abendmahl, stammt aus dem Jahr 1523: Es gilt als Beispiel für den radikal vereinfachenden Spätstil des Künstlers, der durch eine „minimalistisch-strenge und ernste Formensprache“ (Schoch 2002, S. 488) gekennzeichnet ist.
Ein nackter, flachgedeckter Kastenraum dient als Bühne. Vor seinen kahlen Wänden steht ein roh gezimmerter Holztisch, dessen Platte die Komposition horizontal in zwei Hälften teilt. Er bildet eine Barriere, hinter der in drei Gruppen der Heiland und seine Jünger sitzen, fokussiert auf die Hauptfiguren Christus, Johannes und Petrus. Als einziger Gegenstand steht links ein Kelch auf dem abgeräumten Tisch. Nicht weniger ostentativ sind im Vordergrund rechts weitere Gegenstände am Boden abgestellt: eine blanke Metallschüssel, ein gefüllter Brotkorb, eine Weinkanne und ein Täfelchen mit dem Dürer-Monogramm und der Jahreszahl 1523. Insgesamt ist die Komposition klar zentriert und ausgewogen spiegelsymmetrisch, dabei aber eher reliefhaft als tiefenräumlich angelegt. Der niedrige Blickpunkt des Betrachters lässt das Gefühl entstehen, „man knie vor der Szene“ (Sonnabend 2007, S. 224). Christus sitzt an zentraler Stelle; sein Haupt befindet sich über dem des Johannes und einer markanten Tischtuchfalte genau in der Mitte der Rückwand, bildet aber nicht den perspektivischen Fluchtpunkt der Komposition. Den Tisch hat Dürer „scharf nach links geschoben (so scharf, daß die Figur am Ende durch den Rand entzwei geschnitten ist), und das Gewicht eines enormen Rundfensters fällt auf die rechte Seite“ (Panofsky 1977, S. 297).
Leonardo da Vinci: Abendmahl (1494-1497); Mailand, Santa Maria delle Grazie (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Abendmahl Leonardo da Vincis im Refektorium von S. Maria delle Grazie in Mailand (1495-1497; siehe meinen Post „L’ultima cena“) wird zwar von Dürer in seinem Holzschnitt zitiert, doch ist weder die Ankündigung des Verrats dargestellt noch die daraufhin losbrechende Erregung der Apostel. „Dürer hat für seinen Holzschnitt Leonardos Pathos gedämpft“ (Suckale 2013, S. 259). Vielmehr nimmt man Stille und tiefen Ernst, Konzentration und Andacht wahr – oder auch, in dem absichtslos mit seinem Messer hantierenden Jünger links am Rand, ein melancholisch versunkenes, brütendes Lauschen und Nachdenken“ (Arndt/Moeller 2005, S. 166). Fast alle Männer um Christus sind ihm als Hörende zugewandt. Nur in der Dreiergruppe rechts findet wohl ein Gespräch statt: Einer der drei wendet sich – fragend oder erklärend – den beiden anderen zu. Das Bemühen der Jünger, die schwerwiegenden Worte Jesu verstehen zu wollen, zeigt sich besonders deutlich in der vorgebeugten Gestalt neben dem Kelch, darüber hinaus aber auch in dem durchgängig aufmerksamen Gesichtsausdruck der Jünger. Der gesammelte Ernst und vor allem der Melancholiegestus des ganz links am Tisch Sitzenden lassen an die Worte denken, mit denen Jesus seinen Abschied verkündet (Johannes 13,33) und den Jüngern Leid voraussagt (Johannes 15,18-21). 
Anders als die Künstler vor ihm hält Dürer sich bei seinem Abendmahl sehr genau an die Schilderung des Johannes-Evangeliums (Johannes 13-17). Dort wird berichtet, dass Jesus als Zeichen seiner Demut zuerst den Jüngern die Füße wusch (Johannes 13,5-12). Auf die Fußwaschung folgt das Passah-Mahl und die Ankündigung des Verrats (Johannes 13,21-31), denn Judas hat den Saal verlassen, nachdem ihm Jesus einen in Wein getauchten Bissen überreicht und ihn so als Verräter kennzeichnet (Johannes 13,26-31). Die Mahlzeit ist vorüber, was man auch daran sieht, dass ein Jünger links noch seinen Teller in der Hand hält und sein Nachbar gedankenverloren mit dem Messer Krümel auf dem Tisch aufpickt. 
Die optische Präsenz des Kelches und des auf dem Boden abgestellten Brotkorbs sowie die Weinkanne legen nahe, in ihnen Hinweise auf die Einsetzung des Abendmahls zu sehen. Doch das eigentliche Thema des Holzschnitts sind die Abschiedsreden Jesu (Johannes 13,31-16,33). „Deshalb liegt der Fluchtpunkt der auffällig inzenierten zentralperspektivischen Konstruktion im Arm Christi, den er im Redegestus ausgestreckt hat“ (Suckale 2013, S. 258/259). Gezeigt ist also in konsequenter Anlehnung an das Johannes-Evangelium, was sich nach der Verratsankündigung und der Einsetzung des Abendmahls ereignet eine Phase, die innerhalb der Bildtradition sonst nirgends auftaucht. 
Erwin Panofsky sieht den Hauptinhalt von Dürers Grafik in der Verkündigung des „neuen Gebots“ und damit in der „Einrichtung der evangelischen Gemeinschaft“ (Panofsky 1977, S. 298): „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,34-35; LUT). Der Betrachter wird, so Karl Arndt/Bernd Moeller, zum Ohrenzeugen der Predigt Christi: „Die Aufmerksamkeit, die Nachdenklichkeit und die Andacht, die die Jünger in unterschiedlicher Weise erkennen lassen, ist auch ihm abverlangt, und der so deutlich hell vor dunkel zur Geltung gebrachte Zeigegestus des Jüngers in der Gruppe rechts am Tisch lässt sich in diesem Zusammenhang als ein ausdrücklicher Wink verstehen, die Worte Jesu zu bedenken“ (Arndt/Moeller 2005, S. 172).
Im Zentrum der Szene hat Dürer neben Christus die Gestalt des Petrus platziert. Konzentriert und mit gefalteten Händen blickt der Jünger über die rechte Schulter auf seinen Herrn. An zwei Textpassagen aus dem Johannes-Evangelium kann sich der Betrachter dabei erinnert fühlen: an die Schilderung der Fußwaschung (Johannes 13,6-10) mit dem Gespräch zwischen Christus und Petrus und an die Treuebekundung des Jüngers, auf die Christus mit der Voraussage von dessen dreimaliger Verleugnung antwortet (Johannes 13,36-38). Der sehr jugendliche, ja nahezu kindhaft wirkende Johannes liegt anders als in Dürers Holzschnitt von 1510 nicht an der Brust Jesu. Vielmehr hat er beide Hände auf dem Tisch zusammengelegt und den Kopf auf den linken Unterarm gebettet. Er scheint zu schlafen und jedenfalls dem Geschehen um ihn vollkommen entrückt.
Albrecht Dürer: Abendmahl (1510, Große Passion);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
Albrecht Dürer: Fußwaschung (1508/09, Kleine Passion);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
Auffällig nah hat Dürer die flache Schale an den vorderen Bildrand und damit an den Betrachter herangerückt – in einiger Entfernung von Brotkorb und Kanne und zusätzlich von diesen beiden Motiven getrennt durch das Holztäfelchen. Die Schüssel ist mit ihrer runden Form deutlich bezogen auf die fast gleich große Maueröffnung über der Mittelgruppe und liegt genau auf der Vertikalachse des Blattes, die sich zwischen Christus und dem ihm zugewandten Petrus befindet. Es handelt sich offensichtlich um das Becken“ der Fußwaschung. Auch in seiner Kleinen Passion ist eine solche flache Schale zu sehen, vor der Christus kniet und in die Petrus seine Füße bzw. seinen Fuß gesetzt hat.  
Panofsky hat Dürers Holzschnitt als Stellungnahme zur reformatorischen Abendmahlsdiskussion verstanden. Die herausgehobene Position des Kelches deutet er als Bekenntnis zu Luthers Forderung nach dem Laienkelch – deswegen erkennt er in der leeren Schüssel im Vordergrund auch nicht das Becken der Fußwaschung, vielmehr fehle hier das Passah-Lamm; „seine Abwesenheit ist fast herausfordernd proklamiert, mit der Absicht, die Lehre einzuschärfen, daß das Abendmahl des Herrn ,kein Opfer‘ ist“ (Panofsky 1977, S. 297). Robert Suckale hat dieser Sicht widersprochen: Es entspreche nicht der Denkweise Dürers, in seinen Bildern auf die Tagespolitik einzugehen, und es sei auch nicht sicher, dass der Kelch der Eucharistie gemeint ist, da im Johannes-Evangelium die Einsetzung des Abendmahls überhaupt nicht erwähnt wird. Man könne ihn am besten als das Weingefäß deuten, in das Jesus den Bissen für Judas getaucht hat (Johannes 13, 26). 
Dürer hat in seinem Holzschnitt die Abfolge des letzten Abendmahls bis zum „neuen Gebot“ zusammengefasst, indem das bereits Geschehene anhand von Kelch, Brotkorb, Kanne und Schüssel sowie durch den fehlenden Judas in Erinnerung gerufen wird. Was wir als Betrachter nun vor uns sehen, ist die von Jesus gestiftete Gemeinschaft der einander Liebenden. An dieser Gemeinschaft der ersten Christen soll sich die Christengemeinde der eigenen Zeit orientieren: Die Jünger sind durch das Abendmahl, durch Christi vorbildhaftes Dienen und sein „neues Gebot“ der Liebe zusammengeschlossen und nehmen gläubig die Worte Jesu auf. Dass Dürer die Jünger nur in der Rolle als Hörende darstellt, betont den Stellenwert, den das Wort und die Predigt in der frühen Reformationsbewegung eingenommen haben.
Albrecht Dürer: Das letzte Abendmahl (1523; Federzeichnung); Foto: © Albertina, Wien
Vorbereitet hat Dürer seinen Holzschnitt durch eine im gleichen Jahr entstandene Federzeichnung, die heute in der Wiener Albertina aufbewahrt wird. Der Vergleich zeigt, dass der Künstler auf seinem ausgeführten Holzschnitt die Figurenanordnung maßgeblich veränderte: Jesus, der in seinen Armen eingeschlafene Johannes und Petrus, auf der Zeichnung am linken Ende der Tafel platziert, in das Zentrum; die Bedeutung der Gruppe wird zusätzlich durch den darüber liegenden Okolus betont. Judas ist auf der Zeichnung ganz rechts im Vordergrund durch einen Geldbeutel identifizierbar – offensichtlich wählte Dürer als inhaltlichen Schwerpunkt seines Entwurfs die Verratsankündigung, was die emotionale Gestik der Jünger erklärt, die dann auf dem Holzschnitt wegfällt. Der Holzschnitt selbst ist anscheinend das einzige ausgeführte Blatt einer Serie von Zeichnungen im Querformat, die vermutlich eine Passionsfolge vorbereiten sollten.

Literaturhinweise
Arndt, Karl/Moeller, Bernd: Albrecht Dürer im Spannungsfeld der frühen Reformation. Seine Darstellungen des Abendmahls Christi von 1523. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 295-298;
Price, David: Albrecht Dürer’s „Last Supper“ (1523) and the „Septembertestament. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59 (1996), S. 578-584;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 58-59;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz  Verlag, Ostfildern 2003, S. 518;
Schoch, Rainer: Das letzte Abendmahl, 1523. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 486-488;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 224;
Suckale, Robert: Dürers Stilwechsel um 1519. In: Petra Schöner/Gert Hübner, Artium Conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeitforschung. Aufsätze für Dieter Wuttke. Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 2013, S. 245-267;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.  

(zuletzt bearbeitet am 14. April 2021)

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