Freitag, 29. April 2016

Brunelleschi vs. Ghiberti – der Wettbewerb um die Baptisteriumstür in Florenz


Lorenzo Ghiberti: Opferung Isaaks (1401); Florenz, Bargello (für die Großansicht einfach anklicken)
Im Winter 1400/1401 schrieben die Stadtregierung von Florenz und die Wollhändlergilde „Arte di Calimala“ einen öffentlichen Wettbewerb aus: Zu vergeben war der Auftrag für das zweite Türen-Paar des Baptisteriums. Was folgte, gilt als eines der berühmtesten Beispiele eines Künstlerwettstreits. Die Aufgabe der Teilnehmer bestand darin, innerhalb eines Jahres ein Bronzerelief vorzulegen, dass die Opferung Isaaks zeigt (1. Mose 22,1-19), in Form und Größe den Tafeln der Vorgängertür von Andrea Pisano (1290–1380) entsprechend. Diese erste Bronzetür, 1336 angebracht, war für das dem Dom gegenüber liegende Ostportal bestimmt; es diente – wie heute noch – als Haupteingang des Baptisteriums. Die szenischen Reliefs der Pisano-Tür präsentieren die Geschichte Johannes des Täufers, des Schutzpatrons von Florenz und daher der nach Christus prominentesten Bezugsperson im religiösen Leben der Kommune.
1401 hatten sich die Juroren zwischen den beiden Finalisten Lorenzo Ghiberti (1378–1455) und Filippo Brunelleschi (13771446) zu entscheiden – sieben Konkurrenzreliefs waren eingereicht worden. Den Zuschlag für den prestigeträchtigen Auftrag erhielt letztlich Ghiberti, der jüngste der sieben Bewerber. Am 23. November 1403 wurde der Vertrag unterschrieben, der Künstler begann mit den Arbeiten an den Türen: 28 annähernd quadratische Felder mit Vierpass-Reliefs waren anzufertigen. Wie bei der Tür von Andrea Pisano sollten die fünf oberen Reihen mit Szenen aus dem Neuen Testament versehen sein (diesmal aus dem Leben Christi), die beiden untersten mit acht sitzenden Einzelfiguren (vier Kirchenväter und vier Evangelisten). Am 20. April 1424 wurden die Türen schließlich am Baptisterium angebracht – und zwar am Ostportal. Dafür versetzte man die beiden Pisano-Türen an die Südseite der Taufkirche.
Filippo Brunelleschi: Opferung Isaaks (1401); Florenz, Bargello (für die Großansicht einfach anklicken)
Auf seinem Wettbewerbsrelief (41 x 36 cm) positioniert Brunelleschi den entscheidenden Moment der Opferung Isaaks in die obere Hälfte des horizontal aufgeteilten Bildfeldes: Der bis zum Äußersten angespannte Abraham, als Profilfigur dargestellt, drückt seinem Sohn mit der linken Hand den Kopf nach oben und setzt ihm das Schlachtmesser an den Hals; der gefesselte Isaak wiederum versucht, auf dem Altar kniend, sich dem Griff des Vaters zu entwinden und sein Leben zu retten. Im letzten Moment bereitet der herbeigeeilte Engel dem Drama ein Ende, indem er mit der Linken den Arm Abrahams ergreift und so den Vater von der Tat abhält. Mit der anderen Hand verweist der Engel auf den von Gott gesandten Widder, der an Isaaks Stelle geopfert werden soll. „Leicht erhöht befindet sich das Tier fast auf gleichem Niveau wie der Altar, so daß der spätere Austausch der Opfer schon jetzt mühelos visuell vollzogen werden kann“ (Niehaus 1998, S. 55). Der Widder hat, quasi gegenläufig zum Haupt Isaaks, den Kopf nach links gewendet: Brunelleschi betont auf diese Weise, so Norbert Schneider, seine Funktion als Opfertier, denn der Bock präsentiert damit die Stelle, an der die Schächtung vorzunehmen war.
Die untere Hälfte bzw. der Vordergrund des Reliefs füllt Brunelleschi mit den beiden  Dienern Abrahams und seinem Esel. Als die unteren Eckpunkte einer Dreieckskomposition, dessen Spitze Abraham bildet, sind sie jeweils nach außen gerückt, den Esel zwischen sich einspannend. Die in der linken Ecke sitzende Figur ist ein Antikenzitat: Brunelleschi greift hier die Haltung des berühmten Dornausziehers aus dem Museo Capitolino auf. Der zwischen den beiden Männern in der Mitte platzierte Esel hat seinen Kopf gesenkt, um aus einem Rinnsal am unteren Bildrand zu trinken. Aus derselben Quelle schöpft der rechts sitzende Diener mit einer Schale Wasser.
Während der untere Bereich in sehr hohem Relief gearbeitet ist und vor allem die Diener beinahe wie freiplastische Statuetten wirken, hat Brunelleschi den Reliefgrad im oberen Bereich deutlich reduziert. Er weist den beiden Szenen dadurch verschiedenen Raumzonen zu, schafft auf diese Weise also Vorder- und Mittelgrund. Die Hauptszene mit der Opferung findet daher nicht nur über, sondern auch räumlich hinter den wartenden Dienern statt. Sie ist zwar in den Mittelgrund gerückt, befindet sich aber, anders als bei Ghiberti, im Bildzentrum. Das gilt vor allem für die Figur des Isaak.
Dornauszieher (Spinario); Rom, Museo Capitolino
Auf Ghibertis Relief sind die beiden Hauptfiguren in der oberen rechten Bildhälfte angeordnet, von den anderen Figuren deutlich abgetrennt durch eine diagonal verlaufende Felsformation, Durch diese Teilung wird auch die zeitliche Dimension der Erzählung anschaulich: Nach dem Bericht aus 1. Mose 22 lässt Abraham nach drei Tagen seine beiden Knechte und den Esel zurück, um sich mit Isaak zur fernen Opferstätte zu begeben. Anders als bei Brunelleschi ist uns Isaak frontal zugewandt – eine klassische Schönheit, wohlproportioniert und mit gelocktem, schulterlangen Haar. Auch seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt, aber der muskulöse junge Mann sieht seinem Vater nun, wenn auch erstaunt, direkt in die Augen und scheint jeglicher Todesangst zu trotzen. Schneider erkennt in der Drehung seines Kopfes eine Nähe zu der berühmten hellenistischen Figurengruppe des Gallier Ludovisi (siehe meinen Post Lieber tot als Sklave“). Die Figur Abrahams wird „im wesentlichen von den Schüsselfalten gebildet, die weich um den Körper schwingen“ (Niehaus 1998, S. 52). Der Patriarch hat in eleganter Bewegung seinen Arm erhoben und das Messer bedrohlich gegen seinen Sohn gerichtet. Dabei flattert  ein Stück Stoff seines Ärmels in der Luft flattert, was die innere Erregung Abrahams veranschaulicht.
Gallier Ludovisi; Rom, Museo Nazionale Romano
Die Dramatik der Szene wird in erster Linie durch den ernsten Gesichtsausdruck des Vaters verdeutlicht und nicht durch dessen Körperhaltung. Von rechts oben naht der perspektivisch verkürzte Engel, wobei sich Ghiberti genauer an den biblischen Text hält als Brunelleschi. Denn dort wird nur berichtet, dass der Engel Abraham durch Zuruf Einhalt gebietet, und nicht, dass er physisch eingreift: „Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt“ (1. Mose 22,11-13; LUT). Ghibertis Diener stehen links unten eng beieinander und scheinen – über den Esel hinweg – ins Gespräch vertieft.
Anders als Brunelleschi orientiert sich Ghiberti also nicht nur präziser an der textlichen Vorlage, er tendiert auch zu einer anmutigeren, eleganteren Formensprache. Zudem ist ihm Tiefenwirkung, die Illusion von Dreidimensionalität wichtiger als Brunelleschi, was sich an perspektivischen Verkürzungen wie der des Engels erkennen lässt. Alexander Perrig vermutet für den Wettbewerbsentscheid auch handfeste ökonomische Erwägungen: Brunellschis Relief wiegt sieben Kilogramm mehr als das von Ghiberti, obwohl allen Konkurrenten die gleiche Erzmenge zur Verfügung gestellt worden war. Für das entsprechende Türganze hätten die Verantwortlichen mit einem Materialmehraufwand von über zwei Zentnern rechnen müssen. Brunelleschis Relief ist außerdem aus einer weitaus höheren Zahl von einzel gegossenen Stücken zusammengesetzt als dasjenige Ghibertis. Für die Ausführung einer entsprechenden Tür wäre daher mit einem wesentlich höheren Arbeitsaufwand zu rechnen gewesen. Doch das bleiben Vermutungen – die Gründe für die Entscheidung der Jury lassen sich kaum mehr zwingend rekonstruieren.
Von der Künstlerkonkurrenz um die Baptisteriumstür haben sich nur die beiden Reliefs von Brunelleschi und Ghiberti erhalten: Ghibertis Arbeit verblieb zunächst bei der Zunft; Brunelleschis Tafel konnte man ab 1432 am Altar der Alten Sakristei in San Lorenzo bewundern (die Alte Sakristei wie auch der Altar wurden nach den Entwürfen Brunelleschi errichtet). Im 17. Jahrhundert kamen beide Werke in die Kunstsammlung des Großherzogtums der Toskana, seit 1859 sind sie im Bargello in Florenz öffentlich ausgestellt.
Die beiden 1424 angebrachten Baptisteriumstüren von Lorenzo Ghiberti
1425 erhielt Ghiberti ohne das Zwischenspiel eines erneuten Wettbewerbs den Auftrag, ein drittes (sein zweites) Bronzeportal für das Baptisterium anzufertigen. Nach 27 Jahren war sein Werk vollendet und wurde Mitte Juni 1452 der Öffentlichkeit vorgestellt – es handelt sich um die sogenannte Paradiestür, die ich demnächst vorstellen werde.

Literaturhinweise
Markschies, Alexander: Brunelleschi. Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 26-32;
Niehaus, Andrea: Florentiner Reliefkunst von Brunellschi bis Michelangelo. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 1998, S. 51-61;
Perrig, Alexander: Lorenzo Ghiberti. Die Paradiestür. Warum ein Künstler den Rahmen sprengt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987;
Prochno, Renate: Die stilisierte Konkurrenz nach der Antike: Die Ausschreibung für die Baptisteriumstüren in Florenz 1401. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 35-41; 
Rauterberg, Hanno: Die Konkurrenzreliefs. Brunelleschi und Ghiberti im Wettbewerb um die Baptisteriumstür in Florenz. LIT Verlag, Münster 1996; 
Schneider, Norbert: Kunst der Frührenaissance in Italien. Exemplarische Interpretationen. Band 1: Skulptur. LIT Verlag, Karlsruhe 2017, S. 15-33;  
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 14. September 2021) 

Mittwoch, 20. April 2016

Mit beiden Beinen im Blumenteich – Gustav Klimt porträtiert Mäda Primvesi


Gustav Klimt: Porträt Mäda Primavesi (1912); New York, The Metropolitan Museum
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Das Bildnis der neunjährigen Mäda, Tochter des Wiener Bankiers Otto Primavesi und seiner Frau Eugenia, ist das einzige großformatige Kinderporträt von Gustav Klimt (1862–1918). In selbstbewusster Pose steht das Mädchen frontal vor dem Betrachter, fast den ganzen Bildraum einnehmend und den rechten Arm beinahe trotzig auf die Hüfte gestützt, der linke verschwindet hinter dem Rücken. Ohne Scheu und mit kühler Gelassenheit blickt sie uns entgegen. Das Seidenkleid, das Mäda trägt, reicht ihr bis knapp über die Knie; es ist mit einer Passe aus Blumen und Plisseefalten geschmückt. Breitbeinig und lebensgroß besetzt Mäda die vorderste Bildebene; mit ihren übergroßen Füßen in weißen Ballerinas steht das Kind auf einer dreifachen violetten Wellenlinie.
Gustav Klimt: Porträt Adele Bloch-Bauer (1912); Privatbesitz
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Gerade Mädas besondere „Standfestigkeit“ ist auffallend, denn damit unterscheidet sie sich deutlich von der Mehrzahl der Klimtschen Frauenporträts, deren Fußpartie fast immer vom Bildrand abgeschnitten wird. Ein typisches Beispiel für diese Tendenz ist das zweite Porträt von Adele Bloch-Bauer, wie das Bildnis von Mäda 1912 entstanden. Adele Bloch-Bauer scheint hier mit dem sehr flächigen Hintergrund regelrecht zu verschmelzen. Anders bei Mäda: Obwohl ihr helles, mit Blumen besetztes Rüschenkleid sich mit der floralen Musterung des Teppichs und der Tapete eng verbindet, verhindert die betonte Räumlichkeit, dass Figur und Grund ineinander aufgehen. Der blumendurchsetzte Fußboden erinnert in seiner sanften Farbigkeit an eine Frühlingswiese; Tobias G. Natter vergleicht ihn mit Claude Monets späten Seerosenbildern. Im Porträt der Mutter Mädas, der Schauspielerin Eugenia Primavesi, die Klimt kurze Zeit später malt, nähert der Künstler abermals Landschaft und Porträt einander an.
Gustav Klimt: Eugenia Primavesi (1913/14); Toyota, Municipal Museum of Art

Literaturhinweise
Natter, Tobias G./Frodl, Gerbert (Hrsg.): Klimt und die Frauen. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002, S. 126;
Natter, Tobias G. (Hrsg.): Gustav Klimt. Sämtliche Gemälde. Taschen Verlag, Köln 2012, S. 202 und 621;
Stooss, Toni/Doswald, Christoph (Hrsg.): Gustav Klimt. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1992, S. 168.

(zuletzt bearbeitet am 26. November 2018)

Donnerstag, 14. April 2016

Monumentale Melancholie – Picassos „Sitzender Akt“ aus der Sammlung Berggruen in Berlin


Pablo Picasso: Sitzender Akt, sich den Fuß trocknend (1921); Berlin, Museum Berggruen
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Mit Picassos „Klassizismus“ verbindet man zuerst seine großen Frauengestalten der frühen 20er Jahre. Diese „schweren Frauen“ zeigen allerdings keine individuellen Züge, sie sind zeitlose Idealtypen mit klassischen Draperien und streng vom Mittelscheitel herabfließenden Haaren. Zu ihnen gehört auch das Pastell Sitzender Akt, sich den Fuß trocknend aus der Sammlung Berggruen in Berlin. Quelle für das Haltungsmotiv der üppigen weiblichen Figur ist ohne Frage der antike Spinario, die römische Bronze eines Jungen, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht. Picasso konnte ihn wahrscheinlich 1917 in Rom sehen. 
Dornauszieher (Spinario); Rom, Museo Capitolino
Auf diese berühmte und häufig kopierte Skulptur aus dem Museo Capitolino bezieht sich auch Pierre-Auguste Renoir (1841–1919) in seiner arkadischen Szenerie mit badender Eurydike. Dieses Bild einer üppigen Frau mit kleinen, hoch angesetzten Brüsten hatte Picasso 1920 mit sechs weiteren Bildern im Tausch von seinem Kunsthändler Paul Rosenberg für seine eigene Sammlung erworben. Es dürfte die unmittelbare Inspiration für sein Pastell gewesen sein. Renoir, der es im Pastellzeichnen zu großer Meisterschaft gebracht hatte, mag Picasso auch zu dieser Technik angeregt haben. Das Gefühl, einer künstlerische Tradition anzugehören – insbesondere der französischen – und ihr verpflichtet zu sein, hatte sich bei Picasso nochmals verstärkt, als er den Sommer 1921 in Fontainebleau bei Paris verbrachte.
Pierre-Auguste Renoir: Eurydike (1895-1900); Paris, Musée Picasso
Von Renoir übernommen ist die Haltung des fülligen, sinnlichen Frauenkörpers, die ebenfalls auf einem Badetuch sitzt. Aber während Renoir seinen Akt in einer freundlichen Landschaft mit weiteren Staffagefiguren darstellt, platziert Picasso seine weibliche Figur mit deutlich überdimensionierten Händen und Füßen vor einem durchgehend glatten, blauen Meer und einem einförmigen Himmel. Sand, Wasser und Himmel wirken bei dem spanischen Künstler flach wie eine Tapete; „der Realitätscharakter der Landschaftsfolie wird durch die springende Horizontlinie zusätzlich gestört“ (Schulze 2003, S. 210). Die Kargheit des Hintergrunds, noch unterstützt durch den braunen sockelartigen Sitz, monumentalisiert die Gestalt; ganz auf sich bezogen, erscheint sie beinahe wie eine Skulptur. Die heitere Lebensfreude
Pablo Picasso: Große Badende (1921); Paris, Musée de l’Orangerie
Renoirs ist introvertierter Melancholie gewichen. „Die nachdenkliche, sinnende Frau, die für Renoir kaum je als Typus in Frage gekommen wäre, bleibt in Picassos Kunst eines seiner Schlüsselthemen“ (Riopelle 2009, S. 78).

Literaturhinweise
Conzen, Ina (Hrsg.): Picassos Badende. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2005, S. 56;
Riopelle, Christopher: Rückkehr zu einer Art Ordnung. In: Louise Rice (Hrsg.), Picasso und die Alten Meister, Belser Verlag, Stuttgart 2009, S. 69-78;
Schulze, Sabine (Hrsg.): nackt!. Frauenansichten. Malerabsichten. Aufbruch zur Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit  2003, S. 210;
Schuster, Klaus-Peter u.a. (Hrsg.): Picasso und seine Zeit. Die Sammlung Berggruen. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1996, S. 114;
Weisner, Ulrich (Hrsg.): Picassos Klassizismus. Werke 1914 – 1934. Edition Cantz, Stuttgart 1988.

(zuletzt bearbeitet am 23. April 2021)

Sonntag, 10. April 2016

Japan meets Pariser Oper – Edgar Degas’ „Die Orchestermusiker“


Edgar Degas: Die Orchestermusiker (1872, 1874-1876 überarbeitet);
Frankfurt, Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Edgar Degas’ Gemälde Die Orchestermusiker ist eines der ersten Werke, in denen sich der französische Künstler (1834–1917) dem Motiv der Tänzerinnen zuwendet. Das 1872 entstandene Ölbild zeigt eine Szene in der Oper nach einer Tanzaufführung. Die Komposition ist in zwei Bereiche gegliedert: Im unteren Teil des Hochformats sitzen die Musiker in ihren schwarzen Anzügen mit dem Rücken zum Betrachter, ihre Instrumente in der Hand. Sie sind nah an uns herangerückt und von den seitlichen Bildrändern beschnitten. Das bedeutet: Der Betrachter befindet sich vermutlich in der ersten Reihe und blickt von schräg unten auf die Bühne. Allerdings wirken die Größe der Musiker und ihre dunkle Bekleidung zunächst wie eine Barriere. Über den Instrumenten schließt sich der obere Bildteil an, der die Tänzerinnen zeigt. Der Kopf des Fagotts rechts zeigt auf eine Primaballerina, die sich zum Applaus verbeugt. Von ihr führt der Blick nach links in den Hintergrund, wo sechs Ensembletänzerinnen abwartend vor dem gemalten Bühnenbild einer Waldlandschaft stehen. In ihre Richtung sind die aus dem Orchestergraben ragenden Violinbögen gewandt. Eine Opernsituation realistisch wiederzugeben, ist aber nicht Ziel des Bildes, denn die Musiker im Vordergrund sitzen nicht nur in unüblicher Reihenfolge, sondern auch viel zu eng beieinander, um ihre Instrumente tatsächlich spielen zu können.
Degas hat sein Gemälde zwischen 1874 und 1876 überarbeitet und die vorhandene Leinwand oben um 17,5 cm ergänzt (vor dem Original erkennbar an einer horizontal verlaufenden Linie im oberen Drittel). Gleichzeitig beschnitt er sie an den Seiten und unten und fügte die drei Violinbögen sowie den Cellisten rechts im Bild ein, wofür er den Großteil des Fagotts übermalte.
In der Vergrößerung (Bild einfach anklicken) ist die Anstückung deutlich zu erkennen
Die Musiker sind in dunklen Farben und mit präzisen, feinen Pinselstrichen ausgeführt, Tänzerinnen und Bühnenkulisse dagegen in hellen Pastell- und verschiedenen Grüntönen. Wenig detailliert, mit freiem, schnellem Pinselstrich und dickem Farbauftrag modelliert Degas Figuren und Bühnenelemente gleichermaßen, sodass die gesamte obere Bildhälfte zu vibrieren scheint. Er ordnet also der Sphäre der Tänzerinnen eine flüchtige Ausführung mit flirrender, bewegter Oberfläche zu, die sich deutlich von der unbewegten, glatten und scharf konturierten Darstellung der Musiker abhebt – Bühne und Orchestergraben werden als voneinander getrennte Welten präsentiert. „In dieser Kontrastierung klingen Geschlechtervorstellungen des 19. Jahrhunderts an: Die malerische Gleichbehandlung der Tänzerinnen, die dargestellte Natur der Bühnenkulisse und die aufgelöste Oberfläche rufen ein Bild der Frau als naturverbunden auf, dessen Gegenstück der kultivierte, rational handelnde Mann bildet“ (Mordhorst 2015, S. 169). Aber ob man deswegen in dem Fagott, das in Schoßnähe der Solistin positioniert ist, und den Violinbögen zwischen den Beinen der Ensembletänzerinnen eine erotische Anspielung sehen sollte, wie Svenja Mordhorst dies tut, scheint mir doch überzogen. Auf jeden Fall verklammern die Instrumente die beiden Bildebenen miteinander. Diagonal ausgerichtet und in Braun gehalten, korrespondieren die Violinbögen mit den angedeuteten Baumstämmen der gemalten Kulisse; sie führen unseren Blick in die obere Bildhälfte und rhythmisieren die Darstellung.
Die Tänzerinnen im Hintergrund stehen nicht mehr in Tanzpose oder in einer bestimmten Reihenfolge, sie erwarten keinen Applaus. Ihre Körperhaltung ist ohne Spannung, ihre Blicke sind kaum noch auf das Bühnengeschehen gerichtet. „Sie werden in dem Moment gezeigt, in dem die künstliche Situation der Ballettaufführung mit ihren festgelegten Stilisierungen beendet ist und sie in ihren Alltag übergehen“ (Mordhorst 2015, S. 170). Das ist der Augenblick, der Degas interessiert und den er in seinen Ballettbildern immer wieder festhält: wenn die Routine die klassischen Posen überwiegt, wenn die Körper schwer werden und die Mienen Anstrengung, Konzentration, Erschöpfung und Versunkenheit verraten, hinter der Bühne und in den Probenräumen.
Utagawa Hiroshige: Die Yoroi-Fähre und Koami-cho (1857); Farbholzschnitt
Utagawa Hiroshige: Der Pflaumengarten von Kameido (1857); Farbholzschnitt
Ungewöhnlich ist die Gestaltung des Bildraums, der auf die Auseinandersetzung mit japanischen Holzschnitten hinweist. Das lässt sich zum einen an den Musikern erkennen, die in Nahsicht und auf Augenhöhe des Betrachter gezeigt und vom Bildrand stark beschnitten werden – Degas verstärkt auf diese Weise den Eindruck, sein Bild sei sozusagen eine zufällige Momentaufnahme. Die Flächigkeit seiner Komposition gehört ebenfalls zu den Stilmitteln japanischer Kunst. Denn durch die Untersicht verschwindet die Bühne als Standfläche der Akteurinnen regelrecht – „Degas erweitert zwar den Bereich der Tänzerinnen, gibt ihnen jedoch keinen Raum zum Tanzen“ (Mordhorst 2015, S. 172) –, die Kulisse verschiebt sich nach vorne, der Tiefenzug des Bildes ist stark reduziert, die Darstellung erscheint zweidimensional. Auch der deutliche Größenunterschied zwischen Musikern und Tänzerinnen bei fehlender räumlicher Distanz trägt zu dieser Wirkung bei.
Edgar Degas: Tänzerin mit Blumenstrauß (1877-1880); RISD Museum, Providence/Rhode Island
Edgar Degas: Das Opernorchester (1870); Paris Musée dOrsay
Degas’ Tänzerin mit Blumenstrauß ist kompositorisch ganz ähnlich angelegt wie Die Orchestermusiker aus Frankfurt. Und auch hier hat der Maler nachträglich ein Stück Leinwand angesetzt – am unteren Rand, um die Dame mit Fächer einzufügen. Eng verwandt mit dem Frankfurter Gemälde ist auch das um 1870 entstandene Bild Das Opernorchester im Pariser Musée d
Orsay. Deutlich stärker legt Degas hier aber den Fokus auf ein realistisch anmutendes Gruppenporträt der Orchesterbesetzung, während die nur bis zur Taille gezeigten Ballettänzerinnen eine reine Rahmenfunktion übernehmen. Ähnlich wie in dem Frankfurter Bild fungieren die Musikinstrumente als visuelle Bindeglieder: Das diagonal gehaltene Fagott führt den Blick des Betrachters zu dem auf einem Stuhl sitzenden Musiker, dessen nach links oben weisender Kontrabass wiederum Orchestergraben und Bühne miteinander verknüpft. Im engen Bildausschnitt sind die Körper der Musiker, wie sich erst bei genauerem Hinsehen erschließt, unrealistisch nah aneinandergerückt, während ihre Gliederung in diagonale Figurenreihen den Bildraum erkennbar rhythmisiert.

Literaturhinweise
Berger, Christian: Wiederholung und Experiment bei Edgar Degas. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2014, S. 22-27;
Mordhorst, Svenja: Das Wahre im Künstlichen. Edhar Degas’ Die Orchestermusiker. In: Felix Krämer (Hrsg.), Monet und die Geburt des Impressionismus. Prestel Verlag, München 2015, S. 168-172;
Museum Folkwang (Hrsg.): Monet, Gauguin, van Gogh ... Inspiration Japan. Edition Folkwang/Steidl, Göttingen 2014.

(zuletzt bearbeitet am 15. November 2023) 

Montag, 4. April 2016

Erleuchtet von göttlicher Gnade – Caravaggios „Bekehrung Maria Magdalenas“

Caravaggio: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1598/99); Detroit, The Detroit Institute of Art
(für die Großansicht einfach anklicken)
Das breitformatige Halbfigurenbild ist ein aus der venezianischen und niederländischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts bekannter Gemäldetypus, bei dem die meist lebensgroßen Figuren nah an den Betrachter herangerückt werden. Caravaggio (1571–1610) hat ihn um 1600 aufgegriffen und in die römische Malerei seiner Zeit eingeführt. Dabei entstanden zunächst Genrebilder wie Die Wahrsagerin (siehe meinen Post „Hinters Licht geführt“) oder Die Falschspieler. Mit der Bekehrung Maria Magdalenas schuf Caravaggio 1598/99 dann wahrscheinlich sein erstes religiöses Halbfigurengemälde – es gehört zu seinen erfolgreichsten Bilderfindungen, wie eine große Anzahl zeitgenössischer Kopien und Varianten belegt.
Caravaggio: Die Wahrsagerin (1596/97); Paris, Louvre
Caravaggio: Die Falschspieler (1594/95); Fort Worth, Kimbell Art Museum
Was genau ist dargestellt? Es handelt sich um ein Thema, das erst im 16. Jahrhundert in Italien aufkam und den biblischen Bericht von Maria und Martha (Lukas 10,38-42) mit den Legenden vermischte, die sich um die Sünderin Maria Magdalena rankten. Martha, links im Bild, und ihre Schwester Maria Magdalena sind hinter einem hölzernen Tisch platziert und in ein intensives Gespräch vertieft. Maria Magdalena ist im Zentrum der Komposition frontal dem Betrachter zugewandt. Sie trägt ein von goldenen Stickbändern verziertes Purpurkostüm mit leuchtend roten Satin-Puffärmeln sowie ein weißes gefälteltes Unterkleid mit bestickter Borte aus Ranken und Blättern. Um Taille und Bauch hat sie außerdem eine dünne cremefarbene Schärpe angelegt. Das Haar wird hinter dem Kopf von einem gelb-roten Band zusammengehalten, einzelne Locken rahmen das Gesicht.
Maria Magdalena blickt zu Martha hinüber; ihr linker Arm, über den sie ihren grünen Umhang geworfen hat, ruht auf einem am Tischende stehenden gerahmten Rundspiegel. Vor ihr auf dem Tisch liegen ein Hornkamm und ein Alabastergefäß mit Schminkschwamm. Besonders in der vorangegangenen venezianischen Malerei wurden diese drei Gegenstände immer wieder als Sinnbilder für die Vergänglichkeit alles Irdischen und insbesondere körperlicher Schönheit verwendet. Lange dachte man, die Szene zeige, wie Martha ihre Schwester ermahne, ihrem sündigen Leben zu entsagen. Wahrscheinlicher ist jedoch, so Frederic Cummings, dass Martha die Wunder Christi aufzählt, und wir sehen hier die Bekehrung Maria Magdalenas vor uns, von Caravaggio erstmals in der Malerei dargestellt. „Die Bedeutung des Moments und der narrative Ablauf des Geschehens werden vor allem durch die Regie des gleißend einfallenden, die Wirkung des Göttlichen symbolisierenden Lichts verdeutlicht“ (Schütze 2009, S. 76).
Der Spiegel wird vom Vanitassymbol zum Sinnbild göttlicher Erleuchtung
Maria Magdalena deutet auf dieses göttliche Licht, das sich prismenartig im Rund des konvexen Glaskörpers bündelt und in diesem Moment auch ihr Gesicht erleuchtet. „Aus dem traditionellen Vanitassymbol, wie es aus Allegorien der Vanitas und Darstellungen der Toilette der Venus vertraut war und der weltlichen Magdalena gedient haben mochte, ist ein sokratischer Spiegel, ein Symbol der von göttlicher Weisheit inspirierten Selbstreflexion geworden“ (Schütze 2009, S. 76). Der Spiegel und das von ihm reflektierte Licht erinnern darüber hinaus an die bekannten Verse aus dem 1. Korintherbrief des Paulus: „Jetzt sehen wir nur ein unklares Bild wie in einem trüben Spiegel; dann aber schauen wir Gott von Angesicht. Jetzt kennen wir Gott nur unvollkommen; dann aber werden wir Gott völlig kennen, so wie er uns jetzt schon kennt“ (1. Korinther 13, 12; LUT).
Für Valeska von Rosen ist die Szene allerdings keineswegs so eindeutig, wie sie in der kunsthistorischen Forschung interpretiert wird: „Nichts an der Mimik oder der Gestik Magdalenas indiziert ihre innere Umkehr oder überhaupt irgendeine seelische Regung, die auf ihre bevorstehende Bekehrung hindeutet“ (von Rosen 2009, S. 144). Ihr Gesicht sei ausdruckslos und unbestimmt. Caravaggio zeige offensichtlich jenen Moment, bevor Magdalenas innere Wandlung einsetze. Der Lichtfleck auf dem Spiegel könne durchaus als Zeichen der Erleuchtung verstanden werden – die die Züge Magdalenas, so von Rosen, gleichwohl noch nicht zu erkennen gebe.
Das helle Licht, von dem Maria Magdalenas Gesicht, Schultern und Dekolleté erfasst werden, verleiht ihrem Inkarnat eine fast porzellanhafte Glätte. Obwohl sie mit weit geöffneten Augen ihre Schwester anzusehen scheint, richtet sich ihr Blick doch vor allem nach innen – wo sich, erleuchtet von göttlicher Gnade, ihre Bekehrung vollzieht. Dabei verweisen Kamm und Puderdose auf das bisherige Leben Maria Magdalenas, während die an ihr Herz gehaltene Orangenblüte und der feine Goldreif an ihrem linken Ringfinger sie als mystische Braut Christi kennzeichnen.
Marthas Gesicht dagegen liegt ganz im Schatten – sie ist nicht der Auslöser dieser spirituellen Erfahrung, sondern beobachtet sie nur: Martha hält während dieses Moments in ihrer Argumentation inne und bestaunt mit offenem Mund, was in ihrer Schwester vorzugehen scheint. Die klassische Geste des Aufzählens an den Fingern hat Caravaggio übrigens später auch in seiner Matthäus-Darstellung (Contarelli-Kapelle) eingesetzt, auf der ein Engel dem Evangelisten die Genealogie Christi erläutert (siehe meinen Post „Matthäus, der Analphabet“). Martha ist in einfachere und gröbere Stoffe gehüllt als ihre Schwester: Sie trägt einen erdfarbenen Umhang über einem roten Gewand und darunter ein weißes Unterkleid mit grünen Ärmeln. Um die beiden Frauen als Schwestern zu kennzeichen, hat Caravaggio Martha mit der gleichen durchsichtigen Schärpe versehen wie Maria Magdalena. Marthas braunes Haar ist zurückgekämmt und in einem Zopf um den Hinterkopf gelegt, einige Strähnen fallen an der linken Schläfe herab. Nur ihr Zopf, die linke Schulter und ihre Hände werden vom Licht getroffen.
Bernardino Luini: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1515); San Diego, San Diego Museum of Art
Als Vorbild könnte Caravaggio eine Darstellung gedient haben, die damals als Original Leonardo da Vincis galt und sich im Besitz des Kardinals del Monte befand (heute wird sie Bernardino Luini zugeschrieben). Kardinal del Monte war einer der frühen Förderer Caravaggios, der ihn Ende 1595 für fünf Jahre als Mitglied des Haushalts in seinen Palazzo aufnahm. Leonardo zu übertreffen, könnte ein Anreiz für Caravaggio gewesen sein, sich diesem Thema zuzuwenden. Formal zeigen beide Werke eine ähnliche Anordnung mit zwei Frauen als Halbfiguren an einem Tisch vor dunklem Hintergrund. Caravaggio fügt jedoch noch das Kunststück des reflektierenden Konvexspiegels hinzu, der im Kontext dieser Szene zum ersten Mal auftaucht.
Tizian: Junge Frau bei der Toilette (um 1515); Paris, Louvre
Lorenzo Pericolo betrachtet dagegen Tizians Junge Frau bei der Toilette aus dem Louvre (um 1515 entstanden) als wichtigste Anregung für Caravaggios Gemälde. „Even at first glance, it is easy to discern how the silhouettes that circumscribe the face and upper bust of Titian’s woman and Caravaggio’s Magdalene match each other: an almost identical outline stretches from one shoulder to another, encompassing through its sinuosity a well-rounded, massive neck and a voluptuous face“ (Pericolo 2011, S. 179). Auf beiden Bildern werden die Frauen in helles Licht getaucht – bei Caravaggio wie von einem Scheinwerfer angestrahlt –, während die Nebenfiguren im Schatten bleiben.
Caravaggio behandelt die Szene trotz seines religiösen Themas nicht anders als seine Genrebilder. Die beiden Halbfiguren werden ohne Nimbus gezeigt, und die traditionellen Attribute Maria Magdalenas – Salbgefäß und Schmuck – fehlen. Deswegen könnte auf den ersten Blick der Eindruck entstehen, es handele sich um eine Toilettenszene, bei der eine kostbar gekleidete und frisierte Dame die Wirkung einer Orangenblüte an ihrem Dekolleté überprüft. Die Gestalten und Objekte sind naturgetreu wiedergegeben und in keiner Weise idealisiert. Maria Magdalena und ihre Schwester Martha werden wie zwei gewöhnliche Frauen präsentiert – offensichtlich hat Caravaggio Modelle für seine Figuren verwendet. 
Caravaggio: Hl. Katharina (1598); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Caravaggio: Judith enthauptet Holofernes (1598); Rom, Galleria Nazionale d'Arte Antica
Caravaggio: Porträt Filide Melandroni (1598/99);
ehemals Berlin, wahrscheinlich 1945 verbrannt
Für die Gestalt der Maria Magdalena nutzte der Maler wahrscheinlich dasselbe Modell wie für die zeitgleichen Bilder der Heiligen Katharina und Judith enthauptet Holofernes. Bei dem Modell könnte es sich um die Kurtisane Filide Melandroni handeln, die Caravaggio in einem wohl 1945 in Berlin verbrannten Gemälde porträtierte. 
Caravaggio: Hl. Franziskus in Ekstase (1595/96); Hartford, Wadswort Atheneum
Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus (1602); Rom, Santa Maria del Popolo
Das Interesse des Barock-Künstlers an inneren Verwandlungen zeigt sich auch bei zwei späteren Gemälden: dem Hl. Franziskus in Ekstase und der zweiten Fassung seiner Bekehrung des Paulus. Die Bekehrung Maria Magdalenas hat zahlreiche Nachahmer gefunden – zu den gelungensten Neuformulierungen von Caravaggios Gemälde gehören eine Version von Orazio Gentileschi (1563–1639) sowie eine lebensgroße Darstellung von Peter Paul Rubens (1577–1640). Am deutlichsten folgt Simon Vouet (1590–1649) in der Anordnung der Figuren, besonders in der Körperhaltung Marias, dem Vorbild Caravaggios; gegenüber dem Detroiter Gemälde sind die räumlichen Verhältnisse allerdings spiegelbildlich wiedergegeben.
Orazio Gentileschi: Die Bekehrung Maria Magdalenas (um 1620); München, Alte Pinakothek
Peter Paul Rubens: Martha und ihre reuige Schwester Maria
(um 1620); Wien, Kunsthistorisches Museum
Simon Vouet: Martha tadelt ihre Schwester Maria Magdalena (1621); Wien, Kunsthistorisches Museum
 
Literaturhinweise
Cummings, Frederic: The meaning of Caravaggio’s ‘Conversion of the Magdalen’. In: The Burlington Magazine 116 (1974), S. 572-578;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 105-106;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 17-37;
Pericolo, Lorenzo: Love in the Mirror: A Comparative Reading of Titian’s Woman at Her Toilet and Caravaggio’s Conversion of Mary Magdalene. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 177-197;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 76;
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 141-145;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 7. April 2021)