Montag, 9. Januar 2017

Mit offenen Augen am Kreuz – das Udenheimer Kruzifix im Mainzer Dom


Udenheimer Kruzifix (um 1100); Mainz, Dom (für die Großansicht einfach anklicken)
© Alexander Hoernigk 
Es ist schon verblüffend: Während sich meine religiösen Überzeugungen mehr und mehr verflüchtigen (und sich kaum noch auf mein Alltagsleben auswirken), bin ich nach wie vor fasziniert von christlicher Kunst, teilweise stärker als je zuvor. Das betrifft zur Zeit besonders die romanischen Triumphkruzifixe, von denen ich bereits einige vorgestellt habe (siehe meinen Post „Der gemarterte Christkönig“ und „Rex triumphans“). Dass die Kunst für viele eine Ersatzreligion sei, wird ihr ja immer wieder vorgeworfen; wer nicht mehr glauben könne, wende sich oft der Kunst zu, weil sie uns „das Erhabene“ spüren lässt – das Bedürfnis danach ist offensichtlich nicht so einfach abzuschütteln.
Deswegen suche ich in diesen Wochen immer wieder Kapellen, Kirchen und Klöster auf – nicht um an Gottesdiensten teilzunehmen, sondern um mir christliche Skulpturen, Altarbilder und Wandmalereien anzuschauen. Wenn die Predigt mich nicht mehr erreicht – sprechen vielleicht diese Kunstwerke noch zu mir? Kann ich ihre Botschaft hören? Und wenn ja: Bedeutet sie mir noch irgend etwas? Kann ich diese Kunst würdigen, bestaunen und genießen, auch wenn ich nicht mehr als Glaubender an sie herantrete? Oder nehme ich einfach auf diese Weise Abschied von einem Glauben, der früher sehr intensiv mein Leben geprägt hat?
Ende 2016 war ich für einen Tag in Mainz: Die Chagall-Fenster in St. Stephan hatten es nach vielen Jahren verdient, wieder einmal besichtigt zu werden – und ihre Blautöne sind wahrlich immer noch überwältigend. Aber auch in den Dom wollte ich nochmals, denn dort befindet sich in der Gotthardkapelle das großartige romanische Udenheimer Kruzifix, das heute in die Zeit um 1100 datiert wird. 1962 war es von der Pfarrgemeinde Udenheim an das Bischöfliche Ordinariat Mainz verkauft worden, 1964 wurde es in der Gotthardkapelle angebracht.
Blick in die zweigeschossige Gotthard-Kapelle
Der Gekreuzigte steht in aufrechter Haltung auf einem kleinen Fußbrett, den schmalen, länglichen Kopf leicht nach rechts vorgeneigt. Der Corpus aus Lindenholz ist 170 cm hoch, die Armspannweite beträgt 145 cm. Das aus Pappelholz bestehende Kreuz ist 213 cm hoch und 166 cm breit. Die mit Dübeln am Rumpf befestigten Arme des Gekreuzigten sind in den Ellenbogen geknickt und nach oben gebogen, die geöffneten Handflächen mit anliegenden Daumen an das Kreuz genagelt. Die geraden, parallelen Beine drehen sich leicht nach rechts; die Füße krümmen sich, leicht zur Seite gedreht und ohne erkennbare Nagelung, nebeneinander auf der zu engen, pflockartigen Fußstütze. Der mächtig wirkende, kaum taillierte Oberkörper ist in etwa so breit wie der senkrechte Kreuzbalken; er wird durch einen bogenförmig begrenzten Brustkorb und schwache Einritzungen der Rippenbögen gegliedert. Bauchnabel und Leisten sind ebenfalls durch Einkerbungen markiert. Besonders auffällig sind die angespannten Muskeln der kräftigen Oberarme. Das sehr tief sitzende, knielange Lendentuch wird durch einen breiten, geschlungenen Gürtel mit einem dicken Knoten auf der rechten Hüfte gehalten. Es hängt in breiten Bahnen mit senkrechten, strähnenartigen Falten zu beiden Seiten des Körpers herab. In deutlichem Kontrast dazu stehen die schrägen, fischgrätenförmig angeordnet platten Stoffpartien vor den Oberschenkeln. Ihre Stoßkante markiert die Mittelachse des Gekreuzigten.
Das Haar Christi fällt in zwei dicken, gedrehten Lockensträngen nach vorn auf die Schultern. Eine enge Haarkappe, die sich auf der Stirn in zwei symmetrische, wellige Partien trennt, bedeckt den Kopf. Zwei große Nägel hielten einst eine Dornenkrone, die aus einem Strick gefertigt war und deren Rest sich erhalten hat. Das Gesicht wird geprägt von einem langen, gewölbten Nasenrücken und großen, weit offenen Augen mit deutlich aus dem Holz herausgearbeiteten Augäpfeln. „Bei der Untersuchung des Kruzifixes in den Jahren 1995 bis 1997 konnte festgestellt werden, daß die Augen des Gekreuzigten zuerst fast geschlossen, spätestens bei der dritten von ingesamt fünf unterschiedlichen Fassungen der Kreuzvorderseite und des Corpus aber weit geöffnet waren“ (Schüppel 2005, S. 209). Der Backenbart ist mittig geteilt, der Oberlippenbart in zwei plastischen Wülsten ausgearbeitet. Ritzungen im Kinn deuten den Kinnbart unter dem schmalen, geschlossenen Mund an.
Hinzugefügt sei noch, dass die Skulptur im Lauf der Zeit überarbeitet wurde – allerdings wohl nicht von einem Meister seines Fachs: Deutlich zu erkennen ist, dass der Corpus über zwei Paar Brustwarzen sowie zwei Seitenwunden verfügt.
Die theologische Bedeutung des am Kreuz stehenden, lebenden Christus ist in den beiden oben genannten Posts von mir bereits ausführlich beschrieben worden, das muss hier an dieser Stelle nicht erneut geschehen. Wer der Kunst wegen nach Mainz kommt, sollte sich das Udenheimer Kruzifix ansehen, unbedingt. Dazu muss man sich allerdings ein bisschen Zeit nehmen: sich hinsetzen in der Kapelle, nicht gleich wieder weg wollen, hinsehen – und sich anschauen lassen von diesem Mann, dessen ans Kreuz genagelte Arme wie zu einer Segensgeste erhoben sind.

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg: Schnell & Steiner 2005, S. 805-808;
Beer, Manuela: Monumentalskulptur in salischer Zeit – Form, Inhalt und Funktion. In:  Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff (Hrsg.), Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Band I. Hirmer Verlag, München 2006, S. 407-418;
Beutler, Christian: Der Kruzifixus des Bonifatius. In: Rainer Berndt (Hrsg.), Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur. Selbstverlag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, Mainz 1997, S. 549-553;
Schüppel, Katharina Christa: Silberne und goldene Monumentalkruzifixe. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Liturgie- und Kulturgeschichte. VDG, Weimar 2005, S. 208-212.

(zuletzt bearbeitet am 13. November 2020)

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