Donnerstag, 27. Juli 2017

Die Mutter aller Geburten – Jacopo Sansovinos „Madonna del Parto“


Jacopo Sansovino: Madonna del Parto (1518-1521), Rom, SantAgostino
Jacopo Sansovinos Skulptur der Madonna del Parto („Madonna der Geburt“) begegnet dem Besucher der römischen Kirche Sant‘Agostino gleich rechts hinter dem Hauptportal. Die Figurengruppe ist in einer eigens vom Künstler geschaffenen Nische aufgestellt und bewusst so platziert, dass sich Mutter und Kind dem Betrachter, der die Kirche durch das Hauptportal betritt, zuwenden. Die Madonna sitzt, leicht aus der Mitte nach links gerückt, im Halbrund der Nische und stützt mit sicherndem Griff ihrer linken Hand den lebhaft bewegten Sohn unter der Achsel. Ihre Rechte ruht auf dem Oberschenkel, die Finger zwischen die Seiten eines Buchs gelegt. Das linke Bein ist leicht vorgestellt, sodass der Fuß unter dem Gewand hervortritt. Über dem hochgegürteten Kleid trägt Maria einen Mantel, der ihren Kopf bedeckt, über die Schultern und dann in großen Falten über ihre Beine zu Boden fällt. Der Halsausschnitt des Kleides wird von einem Pektorale mit einem geflügelten Engelskopf verziert.
Der nackte Christusknabe steht mit einem Bein auf der durch den Mantel verdeckten Lehne des Sessels und setzt das andere Bein in weitem Schritt auf den linken Oberschenkel seiner Mutter. Mit seinem linken Arm greift er quer über seine Brust hin zu Marias Schulter. Dort hält er einen flatternden Vogel schützend in seinen Händen. Der etwas ängstliche Blick des Kindes aus weit geöffneten Augen ist über dessen Arm direkt auf den Betrachter gerichtet, vor dem er den Vogel zu verbergen scheint. Maria, die sich in die gleiche Richtung wendet, blickt dagegen mit leicht gesenktem Haupt versonnen zu Boden.
Der Nischenrahmen nimmt das antike Triumphbogenmotiv auf; Joachim Poeschke verweist außerdem auf die Nischen im Pantheon als Vorbild. Zwei Dreiviertelsäulen korinthischer Ordnung über hohen Sockeln tragen den Architrav und den abschließenden Dreiecksgiebel. Die Rückwand der Nische ist in ihrem oberen, gewölbten Teil mit einer Muschel ausgelegt. Zwei Frauengestalten mit Kelch und Kreuzesstab füllen die Zwickel zwischen Säulen, Nischenbogen und Architrav und lassen sich als Allegorien der Tugenden fides (Glaube) und spes (Hoffnung) deuten. Entstanden ist die Madonna del Parto zwischen 1518 und 1521 während des zweiten Romaufenthaltes von Jacopo Sansovino (1486–1570); errichtet wurde sie über der Grabstätte der Familie Martelli. Die Erben von Giovanni Francesco Martelli hatten die Skulptur in Auftrag gegeben; daher ist an den Sockeln unter den Säulen das Wappen der Familie angebracht: ein steigender Löwe mit Greifenkopf und Flügeln.
Apollo mit Lyra (2. Jh. n.Chr.); Neapel, Museo Archeologico Nazionale
Ganswürger, röm. Marmorkopie eines hellenistischen
Bronzeoriginals; Paris, Louvre
Für die Madonna wie für den Christusknaben scheint Sansovino auf antike Vorbilder zurückgegriffen zu haben: Von einer Apollofigur aus Porphyr, die sich heute im Museo Archeologico Nazionale in Neapel befindet, übernahm er das aufrechte Sitzen, die Haltung der Arme, die Stellung der Beine und Füße und die Gürtung des Gewands unter der Brust. Der Christusknabe wiederum orientiert sich in seiner Bewegung und im Schrittmotiv an den antiken Ganswürger-Statuen (siehe meinen Post „Im Schwitzkasten“).
Michelangelo: Moses (1513-1515); Rom, San Pietro in Vincoli
Raffael: Der Prophet Jesaja (1512); Rom, Sant’Agostino
In ihrer schrägen Sitzhaltung wird die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken wie Michelangelos Moses, den Sibyllen und Propheten der Sixtinischen Decke und Raffaels Jesaja erkennbar. Das gilt auch für die Gewandbehandlung, insbesondere für die Drapierung des Mantels um die Beine, die in ihrem breiten Faltenfluss ebenso dem Moses entspricht wie die „lederartige Konsistenz des Mantelstoffes“ (Poeschke 1992, S. 147/148). 
Benedetto da Maiano: Madonna mit Kind; Florenz,
Arciconfraternita della Misericordia di Firenze
Für den Typus der Madonna mit dem auf ihrem Oberschenkel stehenden Kind verweist Edgar Lein auf die enge Verwandtschaft zu Benedetto da Maianos Madonna di Misericordia in Florenz. Benedettos Skulptur befand sich beim Tod des Künstlers 1497 nahezu vollendet in dessen Werkstatt. „Beiden Statuen gemeinsam ist der starke Kontrast zwischen der ruhig sitzenden Mutter und der vehementen Bewegung im Körper des Kindes“ (Lein 1991, S. 204). Von Benedetto könnten auch die Art der Gewandung, die Schwere des Stoffes und der Falten übernommen sein, denn diese Art der Gewandgestaltung ist „typisch für alle Sitzfiguren, die Benedetto da Maiano seit den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts geschaffen hat“ (Lein 1991, S. 206). Die auf dem Oberschenkel ruhende rechte Hand der Madonna, die mit gestreckten Fingern ein kleines Buch umfasst, ist andererseits ein unverkennbar von Michelangelos Brügger Madonna übernommenes Motiv (siehe meinen Post „In Stein gemeißelte Theologie“).
Michelangelo: Madonna mit Kind (um 1504/05); Brügge, Liebfrauenkirche
Der Vogel in der Hand des Christusknaben ist ein Passionssymbol: Wahrscheinlich handelt es sich um einen Stieglitz, auch Distelfink genannt. Er ist durch mehrere rote Flecken am Kopf gekennzeichnet; nach der Legende stammen diese Flecken vom Blut Christi. Ein Stieglitz soll dem kreuztragenden Sohn Gottes einen Splitter aus der Augenbraue entfernt haben, wobei die herabfallenden Blutstropfen das Gefieder des Vogels rot färbten.
So trifft man die Madonna del Parto heute an
Die heutige Bezeichnung der Figurengruppe als „Madonna del Parto“ greift die Inschrift unter dem Dreiecksgiebel auf: „VIRGO TUA GLORIA PARTUS“ („Jungfrau, dein Ruhm ist die Geburt“); sie ist allerdings erst seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich. Die Skulptur wurde bald Teil der Volksfrömmigkeit: Seit Jahrhunderten wird die Madonna als Beschützerin der Gebärenden und ihrer Neugeborenen angerufen und mit Votivgaben beschenkt. Ihr linker Fuß ist von den zahllosen Küssen und Berührungen so stark abgerieben, dass er mit einem Silberüberzug geschützt werden musste. Die Abnutzungsspuren sind jedoch nicht das Ergebnis einer allgemeinen Ehrerbietung, sondern von freudigen Danksagungen nach dem Eintreten von „Wundern“. Auch der Christusknabe ist nicht mehr ganz derselbe: Im heutigen Zustand ist er mit einem züchtigen Lendentuch bedeckt.
Andrea Sansovino: Anna Selbdritt (1512); Rom, Sant’Agostino
Jacopo Sansovino, eigentlich Jacopo Tatti, war 1501 in die Werkstatt von
Andrea Sansovino (um 1467–1529) eingetreten und hatte später den Nachnamen seines Lehrmeisters angenommen. Die Madonna del Parto kann sicherlich auch als Auseinandersetzung mit einer Marmorgruppe seines Lehrers gesehen werden: Andrea Sansovinos Anna Selbdritt wurde 1512 ebenfalls in Sant‘Agostino aufgestellt, und zwar am dritten nördlichen Langhauspfeiler. Die Skulptur zeigt die Gottesmutter, die dem Betrachter das nackte Jesuskind präsentiert, während die hl. Anna mit dem rechten Arm ihre Schulter umfasst. Aus seiner Rückenlage lächelt der Knabe seine Großmutter an, die leicht dessen Fußsohle berührt. „So ergibt sich durch Blicke und Gesten ein inniger Zusammenhang zwischen den drei Figuren“ (Poeschke 1991, S. 127). Sansovino betont dabei den Kontrast zwischen der Jugendlichkeit Mariens und dem Alter ihrer Mutter, deren greisenhafte Gesichtszüge von einem breit fallenden Kopfschleier weitgehend verschattet sind. Die Füße der hl. Anna ruhen auf einem dicken Buch, mit dem wahrscheinlich die Schriften des Jesaja gemeint sind – des Propheten, der die Geburt Jesu vorausgesagt hatte (Jesaja 7,14).

Literaturhinweise
Boeßenecker, Helen: Skulpturale Altäre im römischen Seicento. Die Vergegenwärtigung des Sakralen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020, S. 361-377;
Garrard, Mary D.: Jacopo Sansovino’s Madonna in Sant’Agostino: An Antique Source Rediscovered. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 38 (1975), S. 333-338;
Güthner, Tobias: Florentiner Kaufleute und Bankiers in Rom: Auftraggeberschaft und Repräsentation im 15. und 16. Jahrhundert. Diss. München 2010, S. 148-153;
Lein, Edgar: Jacopo Sansovinos sogenannte „Madonna del Parto“ in Rom und ihre Beziehung zur Florentiner Skulptur der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 35 (1991), S. 193-210;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band II: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 126-127 und 147-148.

(zuletzt bearbeitet am 17. März 2022) 

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